Openair Bad Bonn KilbiDie nächste Schweizer Musikerin, die die Welt erobern könnte
In Düdingen fand das stilistisch spannendste Festival des Landes statt. Zur Heldin wurde dieses Jahr nicht Beyoncés hoch dotierte Kollegin, sondern eine junge Frau namens Baby Volcano.
Das Festival 2023 ist noch nicht alt, und schon befindet sich Düdingen im absoluten Ausnahmezustand: Auf einer der beiden Hauptbühnen wird geschrien und geschimpft, als gälte es, den Beelzebub vom Gelände zu jagen. Die Gitarre ist am Rückkoppeln, und der Schlagzeuger drischt auf sein Arbeitsgerät ein, als wolle er es dem Erdboden gleichmachen. Vermutlich ist das eine ganz grimmige Form von Death-Metal-Weltuntergangs-Rap, denkt man sich noch, als im nächsten Moment ein freundlicher Beat aus dem lateinamerikanischen Unterhaltungsmusikzweig erklingt und im übernächsten zum Salsatanz aufgefordert wird.
Was hier an eklektischem Tumult vorgetragen wird, dürfte ungefähr dem Gefühlsgetümmel der Diaspora aus Philadelphia entsprechen. Von dort kommt nämlich das Afro-Latin-Quartett Soul Glo, das sein letztes Album sinnigerweise «Diaspora Problem» getauft hat und seine Punk-Tiraden als Kampf gegen Alltagsrassismus und kulturelle Ausbeutung versteht. Es ist aber auch ein schönes Abbild von dem, was den Veranstaltenden der Bad Bonn Kilbi in Sachen Kuration so vorschwebt.
Auf einmal fliegen klingende Babys über die Bühne, es wird geboxt, sich verrenkt und auf Finnisch gerappt.
Die Kilbi gilt als das stilistisch wohl verstörendste Festival Europas und als «Meilenstein der Schweizer Musikgeschichte», wie es in der Laudatio hiess, nachdem der Gründer Daniel «Duex» Fontana 2022 den Schweizer Musikpreis gewonnen hat. Innert Minuten ist der dreitägige Anlass jeweils ausverkauft, und nun steht man da und lässt sich be- und verstören von dem, was der Untergrund musikalisch gerade so zu verlautbaren hat.
Den schönsten Radikalkontrast zum Donnerwetter von Soul Glo beschert uns der Brasilianer Sessa, der gerade dabei ist, zu einem heimlichen Star der brasilianischen Musik heranzureifen. Seine Band wird nicht als die am sorgfältigsten gekleidete in die Geschichte des diesjährigen Festivaljahrgangs eingehen. Sie sieht aus, als käme sie gerade von einem Batik-Treffen örtlicher Blumenkinder. Mittendrin – mit selbst gehäkeltem T-Shirt und Holzgitarre – sitzt der Sänger und Liedschreiber Sérgio Sayeg, der nach dem Konzert sagen wird, dass er es möge, wenn die Leute glaubten, da sitze ein harmloser junger Brasilianer an der Klampfe, um dann festzustellen, dass dieser harmlose junge Brasilianer auch ganz schön Lärm machen könne.
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Sessa steht in der hippiesken Tradition der Tropicalia-Bewegung, die sich im Brasilien der Sechzigerjahre gegen die gängigen Musikklischees und das kunstfeindliche Militärregime auflehnte, indem sie die Populärmusik des Landes mit Avantgarde-Rock und Bossa Nova unterfütterte. Es ist die Gleichzeitigkeit von Schwermut und vorsichtiger Zuversicht, die in seinen Liedern wohnt. Lieder, die aber auch mal kunstfertig aufbrausen oder aus dem Takt geraten können. Und weil das Kilbi-Publikum etwas anders gestrickt ist als andere Publika, werden genau diese Momente der Irritation geradezu umjubelt.
Die zornige Reggaeton-Rapperin aus dem Jura
Apropos Jubel und Irritation: Würde man die Bad Bonn Kilbi kraft eines Applausometers analysieren, den lautstärksten Zuspruch könnte eine Frau mit einigermassen kurzem Anreiseweg verbuchen. Sie heisst Lorena Stadelmann, lebt in einem Dörfchen im Jura, hat familiäre Verflechtungen nach Guatemala und verdreht dem Düdinger Publikum unter ihrem Kampfnamen Baby Volcano nicht nur den Kopf, sondern irritiert gleich noch die Sinne und den Verstand.
Bereits nach einer halben Stunde ist auf der Bühne so viel passiert, was sich nicht in einen herkömmlichen Konzertkontext setzen lässt, dass die Neugier auf diese Frau mit jeder Minute anschwillt. Da schaute mal ein tanzender Achtköpfer auf der Bühne vorbei, da gab es eine geräuschhafte Performance, in der Frau Volcano mit einem klingenden Stofffetzen über die Bühne wirbelte, es gab fast schon gothisch-defätistische Schattenmusik und Halbnackttänze. Und es gab sehr euphorische Weilchen, in denen Baby Volcano zu einer zornigen Reggaeton-Rapperin mutierte und in denen die Tieftonbässe angenehm das Bauchfell massierten.
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Dieses Changieren zwischen Kunst und Unterhaltung, zwischen Zeitgeist und Science Fiction ist dermassen überwältigend, dass Baby Volcano am Ende ihres Vortrags bejubelt wird, als habe sie gerade einen Meistertitel gewonnen. Erste internationale Festivals haben die Schweizerin, die auch als zeitgenössische Tänzerin, Choreografin und Kostümdesignerin auffällig geworden ist, bereits auf die Affiche gesetzt. Und im Publikum nickt man sich wissend zu: Das ist wieder mal eine aus dem helvetischen Untergrund, die mit einem absolut originären Kunstwollen die Welt erobern wird. Vorausgesetzt, diese Welt ist gerecht.
In Sachen Bühnenaktivismus wird das Konzert von Baby Volcano eigentlich nur von einer spinnerten Dreierschaft aus Finnland überboten. Sie heisst Muovipussi, fabriziert eine Art theatrale Schreihalstherapie zu peitschenden Elektrobeats und nimmt es dabei billigend in Kauf, während der Bühnenarbeit auch blaue Flecken davonzutragen.
In ihrer frenetischen Revue verstricken sich die drei in urkomische Boxkämpfe, schleudern klingende Babys über die Bühne, verrenken sich zirkusakrobatisch, rappen auf Finnisch und liefern so viele prima Ideen, die Menschen zum Lachen, zum Ausflippen und zum Tanzen zu bringen, dass sie am Ende zur meistdiskutierten und -geliebten Band des Festivaljahrgangs avancieren.
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Gar nicht mal so viel zu diskutieren gibt dahingegen der Auftritt des nominellen Superstars des Festivals: 070 Shake heisst das Projekt der US-Rapperin Danielle Balbuena, die bereits mit Beyoncé kooperierte, auf Kanye Wests Album «Ye» mitgewirkt hat und als Streaming-Milliardärin nach Düdingen angereist ist. Weil sie aber auch ihren Autotune-Effekt eingepackt hat und ihr abgedunkelter Emo-Trap eine Kunstauffassung offenbart, die ungefähr der Geschmacksdisponiertheit eines Airbrush-Künstlers entspricht, wird ihr Auftritt in Düdingen mehr zur Kenntnis genommen als wirklich gefeiert.
Es riecht nach Punk. Will heissen nach übernächtigtem Bier, nach Schweiss und schlecht gelüftetem Hund.
Ganz im Gegensatz zum festlich bunt gekleideten Herrn aus Uganda, der – zugegebenermassen – einen etwas komplizierten Start in sein Konzert hat: Er heisst Ocen James, ist ein Meister der Acholi-Geige und Abgesandter des afrikanischen Bahnbrecher-Labels Nyege Nyege. Als er seine einleitenden Geschichten über das Hochzeitsgebaren seiner Heimat, deren «beautiful ladies» und den Werdegang seiner selbst gebauten Instrumente erzählt hat, sind schon zwanzig Minuten der Spielzeit aufgebraucht.
Doch was danach folgt, ist von fast schon hypnotischer Bombigkeit. Der englische Elektromann Rian Treanor hat kunstvoll repetitive, stetig evolvierende Beats gebaut, die kurvenlos ins Delirium münden. Dazu singt, fiedelt und tanzt Ocen James sich und sein Publikum in Ekstase. Und wenn jemand gesagt hätte, diese Party würde jetzt die ganze Nacht weitergehen, man hätte willig zugestimmt. Doch wie es an Festivals so geht: Nach einer Stunde wird den beiden der Ton ausgefadet. Herr James ist überrascht, behauptet, in Afrika würden die Uhren aber vollkommen anders ticken, und wenn man ihm denn wirklich Abzüge in der Gesamtnote machen müsste, dann einzig wegen ungünstigen Zeitmanagements.
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Ja, die Kilbi. Sie ist nicht nur Festival, sondern bietet stets auch kleine musikgeschichtliche Unterweisungen: Zum Beispiel in Sachen Punk und Postpunk. Ersterer wird repräsentiert von den australischen The Chats, zu deren Gefolgsleuten Musik-Influencer wie der einstige Nirvana-Schlagzeuger Dave Grohl oder Iggy Pop gehören. Die 2016 gegründete Band braucht nicht viel, um das Publikum zu pogoesken Hüpftänzen zu bewegen: Bass, Schlagzeug, Gitarre, 170 Beats pro Minute und 104 Dezibel. Und schon riecht es auf dem Düdinger Stoppelfeld nach Punk – will heissen nach übernächtigtem Bier, nach Schweiss und schlecht gelüftetem Hund.
Es ist der Punk der Urväter, den The Chats aufleben lassen, ein Punk ohne Schnörkel und Gefühlskrempel, fast schon sittenwidrig präzise gespielt, und jener Epoche gedenkend, bevor die Punks dazu übergingen, sich ihre Garderobe im Warenhaus zu kaufen und auf Bands wie Blink 182 hereinzufallen. Sehr einfallsreich ist das nicht, aber doch einigermassen sympathisch.
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Die Band, die zwei Tage später an selbiger Stelle zu Werke geht, zeigt dann aber auf, warum es mit ebendiesem Punk dann Anfang der Achtziger jäh zu Ende gegangen ist. Gnod heisst sie, zelebriert die brachiale, zeitlupenartige Zähflüssigkeit und erreicht damit eine atonale Wucht, die jedem Punk die Irokesenhärchen zum Zittern bringen. Für ihre musikalische Machtdemonstration brauchen die Engländer ebenfalls nicht viel: ein paar wenige Akkorde, spärlich eingesetzte Schreigesänge, 30 Beats pro Minute und 107 Dezibel. Nun flattern nicht mehr nur die Bauchfelle, sondern auch die Nasenflügel. Ein schwer verdaubarer, glorioser Brocken zum Festivalende: Das ist dem Anlass angemessen. Dieses Konzert – und überhaupt die ganze Kilbi 2023 – wird lange in den Trommelfellen und im Gedächtnis nachklingen.
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