Musikclub in WinterthurWenn Erwachsene mit eigenem Räbeliechtli um die Häuser ziehen
Kürzlich organisierte der Musikclub Kraftfeld ein Räbeliechtlischnitzen mit Umzug. Die Teilnehmenden: alle über zwanzig und auf der Suche nach Kindheitsgefühlen.
- Im Kraftfeld findet jährlich ein Räbeliechtliumzug mit vorhergehendem Schnitzen für Erwachsene statt.
- Die Veranstaltung zieht viele Besucherinnen und Besucher an.
- Dabei kommen viele Erinnerungen an die Primarschule hoch.
Wer an diesem Abend in den Musikclub Kraftfeld eintritt, dem schlägt der Duft von Räben entgegen. Im Hintergrund laufen Kinder-Herbstlieder, «Marini, Maruni, Maroni» von Andrew Bond und «Ich gah mit miner Laterne» sind darunter. An den Tischen sitzen aber keine Primarschülerinnen und -schüler beim Räbeliechtlischnitzen, sondern junge Erwachsene.
Statt nahe der Wandtafel stehen hier die Tische, an denen geschnitzt wird, «in Stolpernähe zur Bar», so der Veranstaltungstext – oder direkt vor dem DJ-Pult im Clubraum. Neben Schnitzwerkzeug und riesigen Schalen, die mit dem Inneren der Räben gefüllt sind, stehen dampfender Glühwein und Bierflaschen. Hier und dort wird beim Schnitzen innegehalten, um eine Zigarette zu drehen.
Das Schnitzen mit anschliessendem Umzug ist inzwischen ein Fixpunkt im Jahresprogramm des Kraftfeld und zieht eine Menge Besucherinnen und Besucher an. Die 60 Räben, die der Club dieses Jahr organisiert hat, sind bereits eine Stunde nach Türöffnung ausverkauft. Viele Nachzüglerinnen und Nachzügler brennen an. «Tut mir leid», sagt die Mitarbeiterin am Eingang zu ihnen, «aber was wir noch haben, ist Glühwein.» Ein guter Trost, findet ein Grossteil, und bleibt.
Die Nostalgie zieht an
Viele der Anwesenden sind hier, weil es ihnen gefällt, zusammen mit anderen in Nostalgie zu baden. «Es ist schön, dass man in einem solchen Rahmen wieder erleben kann, was man zuletzt im Kindesalter gemacht hat», sagt ein Besucher, der mit seiner Freundesgruppe hier ist. «Allein würde man ja nicht extra Räben kaufen, und ein Umzug würde gar nicht erst funktionieren.»
Zudem finden sie es reizvoll, dass man sich für einmal nicht nur mit Freunden auf ein Bier oder einen Glühwein trifft, sondern nebenbei auch noch etwas kreiert. Eine Besucherin lacht über ihren Kollegen, der ein Schachbrettmuster in seine Räbe schnitzen wollte und an einer Stelle ein helles statt ein dunkles Feld eingravierte. Er fällte daraufhin die folgenreiche Entscheidung, auf alle dunklen Felder zu verzichten und sitzt nun vor einer vollständig geschälten Räbe, ganz ohne Muster. «Was ich geschaffen habe, hat eine tiefere Bedeutung!», beteuert er, und bietet Interpretationsansätze an.
Ein Besucher hat schlechte Erinnerungen
Ständig kommen beim Schnitzen Erinnerungen an die Primarschule hoch. «Mir gefielen das Schnitzen und das gemeinsame Singen immer», sagt eine Besucherin, und ihre Kollegin lacht: «Mir vor allem die Wienerli nach dem Umzug.»
An anderen Tischen findet Traumabewältigung statt. «Ich habe es gehasst», sagt ein Besucher. «Das Schnitzen mit klammen Fingern, das Endprodukt, das nie so aussah, wie es sollte … Und dann der gruselige Weg in den Wald hinein-» Hier unterbrechen ihn seine Freundinnen: «Ihr wart im Wald?! Eigentlich geht man doch durch die Quartiere …!» Er zuckt die Schultern und sagt: «Wir mussten jeweils in den Brühlbergwald.»
Immer mehr fertige Räben stehen auf den Tischen. Sie sind mit Pilzen verziert, mit dem Logo der Antifa, mit Rauten- oder Wellenmuster. Auf einem Räbeliechtli, in das auch eine Katze geschnitzt ist, steht: «Fürs Mami», auf der gegenüberliegenden Seite: «Scheiss Migräne.» Jetzt gilt es, all diese – teilweise kryptischen – Kunstwerke beim Umzug der dunklen Stadt zu präsentieren. Vor halb elf ziehen sich die ersten Leute ihre warmen Jacken an und treten vor die Clubtür. Hier wartet ein Leiterwagen, geschmückt mit einer Lichterkette, auf sie.
Teils in Adidas-Trainerhosen, die Räbe in der einen, die Zigarette in der anderen Hand, setzt sich die Gruppe aus ungefähr dreissig Leuten in Bewegung. Aus einer Musikbox auf dem Leiterwagen klingen Kinderlieder, die man früher am Räbeliechtliumzug sang. «Die sind heute ganze sieben Oktaven zu hoch!», ruft eine Besucherin. Eine andere singt die Songzeile «ich has selber gmacht» mit und reckt mit gespieltem Stolz ihr Räbeliechtli in die Höhe.
Es gibt keine Stopps zum Singen
Vom Lagerplatz führt die Route via Wylandbrücke über die Bahngeleise in den Frohbergpark und von dort aus durchs Heiligberg-Quartier. «Wir sind einfach an einem Räbeliechtliumzug …!», sagt eine Kindergärtnerin im Gehen ungläubig zu ihrem Kollegen. Auch für die restlichen Leute ist das Programm eine Sensation. Davon zeugen freudige Luftsprünge, lautes Lachen und die unzähligen Handyvideos, die währenddessen gefilmt werden.
Stopps zum Singen gibt es während des Umzugs keine, dafür einen für Zwischenverpflegung – Glühmost oder Bier vom Leiterwagen – und Gespräche über erwachsene Themen wie die Wohnungssuche. Zurück beim Kraftfeld werden die Räben am Baugerüst und an der Pergola vor dem Club aufgehängt, bevor man sich kurz vor zwölf verabschiedet und schlafen geht. Schliesslich muss man am nächsten Morgen wieder ins gewohnte Erwachsenenleben starten.
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