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Montreux Jazz Festival
Einmal zurück in die 90er, bitte! Oder doch nicht?

Massive Attack au Montreux Jazz Festival 2024
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Beide Bands veröffentlichten bahnbrechende Alben fürs ausgehende Jahrtausend, beide waren auf ihre Weise typisch für eine Zeit, in der es noch einfacher schien, gelangweilt und/oder bekifft dem Weltgeschehen den Rücken zu kehren. Man hätte mit einer nostalgischen Reise rechnen können in Montreux. Air und Massive Attack, zwei musikalische Pfeiler aus den 1990ern, an einem Konzertabend.

Air, die den Abend auf der Seebühne eröffneten, lieferten für diese Weltflucht eine prototypische Anleitung. Liebliche, dabei grossherzige und entrückte Kleinoden aus Synthesizer und Bass. Ihr Album «Moon Safari» war 1998 schon eine Reise zurück in die 1970er-Jahre. Oder besser: in eine Zeit, als man sich die Zukunft auf naive Weise futuristisch vorstellte. Wie in alten Science-Fiction-Serien: mit hautengen Raumanzügen im fliegenden VW-Bus auf dem Weg durchs All.

Weil dieses Album vergangenes Jahr sein 25-Jahr-Jubiläum feierte, führten die beiden Franzosen Jean-Benoît Dunckel und Nicolas Godin es nun in seiner Gänze auf, Stück für Stück, strikte der Reihenfolge auf dem Album folgend. Klar verspricht so eine Anlage keine grossen Überraschungen. Die Frage war lediglich, wie sie diesen minimalen Sound, der oft nur aus Bass (Godin), Synthesizer (Dunckel) und dezentem Schlagzeug besteht, vor Tausenden aufzuführen vermögen würden.

Air au Montreux Jazz Festival 2024

Es zeugt von der Qualität dieser Band – und den Liedern –, dass es funktionierte. Selbst die kleinsten Nuancen holten sie auf der Bühne fein heraus, nicht zuletzt dank einer potenten Musikanlage. Besonders überzeugend war das bei den atmosphärischen Intrumentalstücken («Talisman», «Le Voyage de Pénélope»), die einen perfekten Soundtrack zur untergehenden Sonne über dem Genfersee lieferten. Die Hits des Albums, das etwas dreckige «Sexy Boy» und das betörende «All I Need», klangen so hübsch, wie man sich das erhoffte.  

Erst bei der letzten Zugabe, «Don’t Be Light» vom 2001er-Album «10 000 HZ», zeigte die Band eine dunklere Seite von sich. Ein schweres, mit knurrigen Acid-Lines durchwobenes Psych-Rock-Stück, das unmittelbar die Frage aufwarf, ob dieser düstere Sound nicht dem wahren Charakter der Band entspricht. Womit man das liebliche Album «Moon Safari» im Umkehrschluss als bewussten (und gelungenen) Versuch verstehen kann, dunklere Regungen unter einer dicken Schicht Zucker zu verschütten. 

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Ein Konzert wie hyperventilierende News

Das exakte Gegenteil beabsichtigte im Anschluss Massive Attack an diesem eigentlich als Retro-Spektakel angelegten Abend in Montreux. Die Band lieferte damit das interessantere Konzert ab.

Anstatt ein Album zu reproduzieren, das an eine vergangene Wohligkeit rührt, führte das Trio in einem fulminanten Mix aus wuchtigen Soundwänden, unterirdischen Bässen und hysterischen Visuals dem Publikum den digitalen Overload der heutigen, von hyperventilierenden News (beides, fake und echt) getriebenen Zeit vor Augen. 

Dies mithilfe von zahlreichen Gastsängerinnen und -sängern (darunter Andy Horace, Deborah Miller, Elizabeth Fraser, Young Fathers) und mit überwältigenden Visuals und Filmaufnahmen aus dem BBC-Archiv, zusammengestellt vom Filmemacher Adam Curtis und dem Designkollektiv United Visual Artists. Die Band rund um Grantley Marshal, Robert Del Naja und Andrew Vowles beabsichtigte damit erklärtermassen einen Kommentar zum Weltgeschehen abzuliefern.

Ein System ausser Kontrolle

So flackern von Drogen aufgeheiterte Gesichter als Kacheln über den LED-Screen, während die Band die schleppenden Dub-Beats von «Girl I Love You» spielt. Alte Filmaufnahmen aus Gaza-Stadt begleiten das Stück «Safe From Harm», das Del Naja mit einer Solidaritätsbekundung einleitet. Als die britische Band Young Fathers auf die Bühne tritt und die rasende Rocknummer «Voodoo on My Blood» intoniert, rattert hysterisch die Abflugtafel eines Flughafens über den Bildschirm – ein System ausser Kontrolle. 

Massive Attack au Montreux Jazz Festival 2024

Zur rohen Punknummer «ROckwrok» (sic!) der englischen Band Ultravox, eines von mehreren Covers an diesem Abend, zählten zu alten BBC-Archivaufnahmen von tanzenden Menschen dicke Lettern aktuelle Verschwörungserzählungen auf. Man wusste an diesem Konzert, das ein Gesamtkunstwerk war, nicht, ob es die Filme oder die Musik waren, die einen mitrissen. Klar ist nur, dass es funktionierte. In dieser fulminanten Show fand zusammen, was zusammengehört.

Das ist typisch für eine Band, die künstlerisch schon immer auf alle Seiten offen war. Schon auf ihrem Debüt «Blue Lines» aus dem Jahr 1991 war das sichtbar: Dub, Postpunk und Hip-Hop vermengte das Trio aus dem westenglischen Bristol auf eine Weise, die neu war und die ein ganzes Jahrzehnt prägen sollte. Die Lieder von damals erwiesen sich als zeitlos, weshalb sie auch heute noch als Kommentar zu einer krisenbehafteten Gegenwart taugen.

Überladen und überwältigend wie die Gegenwart

Überladen und überwältigend war das nur in dem Sinn, wie auch die Gegenwart überladen und überwältigend sein kann. Das Konzert endete mit dem achtminütigen «Group Four» vom 1998er-Album «Mezzanine». Ein Steigerungslauf in einem lieblichen Singsang, begleitet von Aufnahmen von Selbstfindungsseminaren aus den 1970ern.

Fast ein bisschen retro, wenn da nicht die letzte Botschaft gewesen wäre: «Das Versprechen des Individualismus bestand darin, dass man frei wäre».

Massive Attack au Montreux Jazz Festival 2024