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Familienmodelle in der Schweiz
In dieser Familie gibt es drei Erwachsene und ein Kind

Zwei Erwachsene, zwei Kinder: Das vorherrschende Bild der Familie bleibt traditionell, die Toleranz gegenüber alternativen Modellen nimmt jedoch zu.
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In Kürze:
  • Eine GDI-Studie zeigt, dass das traditionelle Familienbild in der Schweiz vorherrscht.
  • Das Luzerner WG-Modell sieht alternative Familienstrukturen als stabil und unterstützend.
  • David und Leonie pflegen konsensuelle Nicht-Monogamie, was ihre Beziehung bereichere.
  • Herausforderungen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bleiben bestehen.

«Wir sind gar nicht so weit entfernt von einer Kleinfamilie; wir leben einfach zu viert anstatt zu dritt», erklärt David* das gelebte Familienmodell. Zu viert bedeutet: das Elternpaar David und Leonie* mit ihrem dreijährigen Kind Lou* und ihrer Mitbewohnerin Sara*. Sara lacht und fügt hinzu: «Ursprünglich war geplant, dass ich nur ein paar Monate mit David und Leonie in diese Wohnung einziehe, bis ich eine andere Bleibe gefunden habe. Daraus sind mittlerweile mehr als drei Jahre geworden, und ich habe nicht vor, bald auszuziehen.»

Die Wohn- und Familienformen in der Schweiz sind im Wandel, ebenso wie die Rollenaufteilung der Geschlechter und die Funktion der Familie. Eine kürzlich vom Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI) veröffentlichte Studie der Wissenschaftlerinnen Petra Tipaldi, Karin Frick und Johannes Bauer untersucht, was Familien heute zusammenhält und was ihnen wichtig ist. Dabei wurden 1000 Menschen zwischen 18 und 69 Jahren zu ihren Vorstellungen befragt.

Mutter, Vater, Kinder – die Familie als enge Einheit

Die Ergebnisse der Studie fielen konservativer aus, als es aktuelle Debatten um Gleichstellung, Diversität und Familienformen vermuten liessen. Das vorherrschende Bild der Familie bleibt traditionell: Mutter, Vater und zwei Kinder. Den meisten Befragten ist es wichtig, dass zentrale Aufgaben wie die Kinderbetreuung innerhalb der Kernfamilie bewältigt werden. «Das deutet auf eine verwurzelte Vorstellung in der Schweiz von Familie als eine enge Einheit hin», so die Interpretation der Forscherinnen. Petra Tipaldi ergänzt: «Ich bin erstaunt, dass im Gegensatz zu den Schlagzeilen in den Medien das Bild der Familie immer noch so positiv als Quelle von emotionaler Nähe und Unterstützung wahrgenommen wird.»

Sara und ihre Mitbewohnenden teilen zwar ähnliche Vorstellungen von Unterstützung, definieren Familie aber anders: «Familie bedeutet für mich Konstanz, ist eine Oase der Ruhe, geprägt von Vertrautheit, Intimität und Wohlwollen. Ich erlebe Familie hier mit Leonie, David und Lou, aber auch in Freundschaften und zu mehreren Beziehungspersonen.» Sara kann sich nur schwer mit den klassischen Formen der Kleinfamilie identifizieren, die oft mit Besitzansprüchen und Erwartungen einhergehen. Auch Leonie teilt diese Sicht: «Eine isolierte Kleinfamilie erscheint mir wesentlich unsicherer als unsere alternative Beziehungs- und Wohnform. Ich sehe uns wie einen Tausendfüssler – selbst wenn ein Bein lahmt, läuft er weiter.»

Die Eltern schätzen die Entlastung, Sara das gemeinsame Essen

Die WG lebt in einer Dreizimmerwohnung in Luzern. Sara hat ein eigenes Zimmer, während David, Leonie und Lou sich das grösste Zimmer teilen. Die Stube, der Balkon, die Küche und die beiden Badezimmer nutzen sie alle gemeinsam. Was Sara dazu motiviert, in einer WG mit einem Kind zu leben? «Ich geniesse die vertraute Atmosphäre, das gemeinsame Essen und die Struktur im Alltag – und Lou ist einfach ein richtig cooler Mensch.» Sie sei vielleicht die drittbekannteste Person in Lous Leben, aber nicht eine ihrer engsten Bezugspersonen, beschreibt sie ihre Beziehung.

Auch das Elternpaar schätzt Saras Entlastung im Alltag, sei es bei kleinen Hilfestellungen oder wenn jemand kurz duschen möchte. David bemerkt, dass sich die Dynamik zwischen ihm und Leonie verändert, wenn Sara nicht da ist: «Dann verbringen wir die Abende nur zu zweit. Das hat auch seine schönen Seiten, aber die Gespräche sind anders. Sara inspiriert uns als Paar zur konsensuellen Nicht-Monogamie.»

Sara ist weder mit David noch mit Leonie in einer sexuellen oder romantischen Beziehung, aber alle drei haben mehrere Beziehungspersonen. Im Moment würden diese aber keine Rolle in Bezug auf die Familienform oder das Kind spielen. Dieses Beziehungsmodell wirbelt herkömmliche Vorstellungen durcheinander. Hier vereinbaren alle Beteiligten, dass sexuelle Kontakte und allenfalls auch romantische Gefühle mit anderen Menschen möglich sind. Alle Beziehungspersonen sind damit einverstanden, und in manchen Konstrukten kennen sich die Personen, oder alle leben zusammen.

Herausforderungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie

8o Prozent der Befragten der GDI-Studie leben, anders als die drei Menschen aus der Luzerner WG, in klassischen, monogamen, heterosexuellen Kleinfamilien. Die Toleranz gegenüber alternativen Modellen wie dem von David, Leonie und Sara nimmt jedoch zu. Besonders Patchworkfamilien und Regenbogenfamilien sind mittlerweile weniger Diskriminierung und Vorurteilen ausgesetzt, wie die Befragung zeigt.

Sara, Leonie und David fühlen sich in ihrer Wohn- und Beziehungsform nicht diskriminiert. Und auch hinsichtlich der Erwerbstätigkeit haben sie Wege gefunden, die zwar von der Norm abweichen, jedoch gesellschaftlich immer akzeptierter werden: David kümmert sich mehr um das Kind und den Haushalt, während Leonie mehr bezahlter Arbeit nachgeht. Trotz der Tatsache, dass 80 Prozent der Frauen in der Schweiz erwerbstätig sind, übernehmen in 78 Prozent der Haushalte überwiegend die Frauen die Hausarbeit. Die Studie betont, dass die Erwerbstätigkeit der Frauen zwar die Gleichstellung fördert, sie jedoch auch unter mehr Stress leiden.

Hat noch längst nicht ausgedient: Die klassische Kleinfamilie mit Mutter, Vater und zwei Kindern.

Generell sind in der Schweiz Familien mit ihrem Leben zufriedener als kinderlose Menschen, sie empfinden aber auch höhere Belastungen. Die Vereinbarkeit von Karriere und Kindern bleibt in der Schweiz im Vergleich zu anderen europäischen Ländern schwierig. Es mangelt an Elternzeit und bezahlbarer Fremdbetreuung – Faktoren, die auch zur sinkenden Geburtenrate beitragen. Derzeit bekommt eine Frau in der Schweiz durchschnittlich 1,4 Kinder, während sich die Anzahl der Einzelpersonen­haushalte seit 1970 bis 2021 verdreifacht hat.

Der Druck auf Familien steigt

Das Fazit der GDI-Forscher lautet: «Die Mehrheit ist mit ihrem Familienleben sehr zufrieden. Dennoch steigt der Druck auf Familien – insbesondere finanziell. Es bedarf besserer Rahmenbedingungen und finanzieller Entlastung, um familiäre und berufliche Verpflichtungen miteinander zu vereinbaren.» Die Schweizer Familie habe sich durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen stark gewandelt. Und immer mehr Menschen entscheiden sich trotz traditioneller Rollenbilder für alternative Lebensmodelle, auch solche ohne Ehe und ohne Kinder. Nichtsdestotrotz bleibt die Familie in der Schweiz von hoher Bedeutung.

Leonie äussert sich klar zur Vereinbarkeit von Lohnarbeit und Familie: «Die Strukturen in der Schweiz sind nicht familienfreundlich, im Gegenteil. Wir hatten das grosse Glück, dass wir es uns leisten konnten, einen für uns passenden Weg zu gehen.» Nach Lous Geburt legten Leonie und David gemeinsam ihre Erwerbstätigkeit nieder, um zusammen für ihr Kind da zu sein. «Und wir haben mit Sara eine Unterstützung in unserer Familienform, die uns im Alltag bereichert und entlastet. Auch nach der Geburt half sie dem Paar und übernahm teilweise die Betreuung im Wochenbett. Als sie bemerkte, dass die Eltern die ersten Wochen mehr Privatsphäre benötigen, zog sie für kurze Zeit bei der Nachbarin ein. Am Ende des Gesprächs lacht Sara wie schon zu Beginn und erinnert sich an diese Zeit vor drei Jahren: «Ich war so nah mit dem Baby, dass ich sogar Milcheinschuss hatte.»

*Die Namen wurden zum Schutz der Privatsphäre geändert.