Unruhen in KasachstanMedien berichten von Explosionen und Schiessereien in Almaty
Das Land in Zentralasien wird von Unruhen erschüttert. Die Regierung in der autoritär geführten Ex-Sowjetrepublik geht gewaltsam gegen die Protestierenden vor.
Die Lage in der von Ausschreitungen schwer erschütterten Republik Kasachstan in Zentralasien bleibt unübersichtlich. Das Staatsfernsehen meldete in der Nacht zum Samstag, dass die Sicherheitskräfte in mehreren Städten des Landes weiter gegen Demonstranten vorgingen. Diese Angaben liessen sich nicht unabhängig überprüfen. Die Einsätze konzentrierten sich zuletzt auf die Millionenstadt Almaty, in der es seit Tagen Unruhen gibt.
An mindestens zwei Plätzen der Wirtschaftsmetropole gab es dem Portal Vlast.kz zufolge Schiessereien. Es sei zudem zu Explosionen gekommen. Augenzeugen hätten von einem brennenden Auto berichtet. Sicherheitskräfte patrouillierten in gepanzerten Fahrzeugen. Auch in der Nacht drangen unabhängige Informationen von dort nur spärlich ins Ausland. Das Internet war zumindest zeitweise abgeschaltet. Ausländer werden derzeit nicht in die Ex-Sowjetrepublik gelassen.
Staatschef Kassym-Schomart Tokajew hatte zuvor den Sicherheitskräften die Erlaubnis erteilt, auf Demonstranten zu schiessen. «Ich habe den Befehl gegeben, ohne Vorwarnung tödliche Schüsse abzugeben», sagte Tokajew am Freitag in einer Fernsehansprache. Verhandlungen zur Beilegung der Krise schloss er aus. Wie ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichtete, sperrten die Sicherheitskräfte strategische Bereiche der Stadt Almaty ab und schossen in die Luft, wenn sich jemand näherte. Im Westen sorgte der Schiessbefehl für Empörung.
Das zentralasiatische Land wird seit Tagen von beispiellosen Zusammenstössen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften erschüttert. Proteste, die sich zunächst gegen steigende Gaspreise gerichtet hatten, weiteten sich zu regierungskritischen Massenprotesten im ganzen Land aus. Die Wut der Demonstranten richtet sich auch gegen den autoritären Ex-Präsidenten Nursultan Nasarbajew, der weiterhin als höchst einflussreich gilt.
Almaty, die grösste Stadt des Landes und wirtschaftliches Zentrum, sei von «20’000 Banditen» angegriffen worden, erklärte Tokajew. Die «Terroristen» hätten einen klaren Plan gehabt und seien «bereit für den Kampf» gewesen. Westliche Aufrufe, mit den Demonstranten zu verhandeln, bezeichnete der Präsident als «absurd». «Was für Verhandlungen kann man mit Kriminellen, mit Mördern führen?», fragte er. Sie müssten «vernichtet werden».
In seiner TV-Ansprache dankte Tokajew seinem Verbündeten, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, «ganz besonders» für seine Hilfe. Eine Truppe der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) unter russischer Führung unterstützt derzeit die kasachischen Sicherheitskräfte.
Im Westen löste der Schiessbefehl Bestürzung aus: «Wer ohne Vorwarnung auf Demonstranten schiessen lässt, um zu töten, hat den Kreis zivilisierter Staaten verlassen», twitterte der deutsche Justizminister Marco Buschmann . «Ich verfolge die Lage in Kasachstan mit grosser Sorge», sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mahnte zur «Deeskalation».
Washington schickt Warnung nach Moskau – Lob aus China
Die USA warnten Russland vor Menschenrechtsverletzungen. Auch dürfe Moskau nicht die Institutionen des Landes «übernehmen». Der chinesische Präsident Xi Jinping lobte hingegen Tokajews Schiessbefehl: «Sie haben in kritischen Momenten starke Massnahmen ergriffen und die Situation schnell beruhigt», erklärte Xi laut der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua.
Die deutsche Regierung hoffe, «dass die Beteiligten dort ihrer Verantwortung gerecht werden», sagte eine Berliner Regierungssprecherin mit Blick auf die russischen Truppen.
AFP-Reporter berichteten von einem Bild der Zerstörung in Almaty, mit von Flammen geschwärzten Gebäudefassaden, verkohlten Fahrzeugwracks und Blutlachen auf dem Boden. Die Räume mehrerer Fernsehsender waren zerstört, Rathaus und Präsidentensitz in Brand gesetzt worden. Der Flughafen von Almaty soll laut russischen Medienberichten bis Sonntag für die zivile Luftfahrt geschlossen bleiben.
Mehrere Tote und Verletzte
Nach Regierungsangaben wurden 26 «bewaffnete Kriminelle» getötet und mehr als tausend weitere Demonstranten verletzt. Auf Seiten der Sicherheitskräfte gab es demnach 18 Tote und fast 750 Verletzte. Mehr als 3800 Demonstranten seien festgenommen worden. Die Angaben liessen sich zunächst nicht von unabhängiger Seite bestätigen.
Die 58-jährige Demonstrantin Saule sagte einem AFP-Reporter, sie sei fassungslos über das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte. Diese hätten das Feuer auf die Demonstrierenden eröffnet. «Etwa zehn Menschen wurden auf der Stelle getötet.» In den Online-Netzwerken verbreiteten sich Aufnahmen von Menschen, die vor Angst schreien, als Schüsse ertönten.
Das kasachische Innenministerium teilte mit, alle Regionen des Landes seien «befreit und unter verstärkten Schutz gestellt» worden. Der «Anti-Terroreinsatz» werde fortgesetzt, sagte Tokajew. Er bezichtigte «die freien Medien und bestimmte Personen im Ausland», zu den Protesten angestachelt zu haben.
Um die 5000 russische Kräfte im Einsatz
Nach russischen Angaben landeten im Rahmen der OVKS-Mission russische Fallschirmjäger in Almaty. Laut russischen Medienberichten beläuft sich die russische Beteiligung an dem Einsatz auf weniger als 5000 Soldaten. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärte den Berichten zufolge, Putin und Tokajew hätten in den vergangenen Tagen mehrmals über «die Lage in Kasachstan und gemeinsame Aktionen im Rahmen der OVKS» gesprochen.
Auslöser der Unruhen in der öl- und gasreichen Ex-Sowjetrepublik war Unmut über gestiegene Treibstoffpreise an den Tankstellen. Sie schlugen aber schnell in teils gewaltsame Proteste gegen die Regierung um. Kasachstan wurde über Jahrzehnte von dem autoritären Machthaber Nursultan Nasarbajew regiert, der sich auch nach seinem Rücktritt 2019 grossen Einfluss bewahrte. Als Reaktion auf die Proteste entliess der jetzige Präsident Tokajew die gesamte Regierung und verhängte einen landesweiten Ausnahmezustand.
Grössere Proteste im autoritär regierten Kasachstan sind selten. Die aktuellen Geschehnisse sind die bislang grösste Krise in der Amtszeit Tokajews, der 2019 den langjährigen Staatschef Nursultan Nasarbajew beerbt hatte. Der 81-jährige Nasarbajew stand von 1989 bis 2019 an der Spitze Kasachstans und kontrolliert die Politik des zentralasiatischen Landes als «Führer der Nation» nach wie vor.
AFP/SDA/red
Fehler gefunden?Jetzt melden.