Interview mit dem Aussenminister von Finnland«Im Fall der Ukraine ist es schwierig, neutral zu bleiben»
Finnland – früher selber neutral – tritt der Nato bei und liefert schwere Waffen an die Ukraine. Wie sieht Aussenminister Pekka Haavisto die Schweizer Neutralität?
Finnland war einst neutral wie die Schweiz, doch nun tritt es der Nato bei ...
Nach unserem EU-Beitritt 1995 waren wir nicht mehr neutral, weil wir seither aktiv an den politischen Entscheiden der EU beteiligt sind. Aber wir sind militärisch blockfrei geblieben.
Doch im Mai beschloss Finnland den Nato-Beitritt. Warum?
Aufgrund unserer Geschichte sind die Finnen sehr auf ihre Sicherheit ausgerichtet. Als Russland im Februar 2022 die Ukraine überfiel, fragten sich die Finnen als Erstes: Könnte das auch uns passieren? Und was, wenn ein Angreifer sogar nukleare oder chemische Waffen einsetzen würde? Wie könnten wir widerstehen? So kam es zum Entscheid, der Nato beizutreten. Er fiel im Parlament mit 188 zu 8 Stimmen.
Bis dahin war die militärische Unabhängigkeit in der finnischen Gesellschaft tief verankert.
Es gab im Frühling eine kurze, aber sehr intensive Debatte. Am bemerkenswertesten: Sogar das Linksbündnis, bei dem die Blockfreiheit Teil des Parteiprogramms war, änderte seine Position.
War der Entscheid für Sie als grüner Politiker schwierig?
Ich war zuvor kein Befürworter eines Nato-Beitritts. Aber nach dem 24. Februar realisierten wir, dass wir in einem total neuen Europa leben und dass dies neue Risiken für Länder wie Finnland und Schweden bringt.
Ist Finnland derzeit konkret von Russland bedroht?
An der Grenze ist es sehr ruhig. Unmittelbar nach unserem Beitrittsgesuch bei der Nato haben wir von den USA, Grossbritannien und wichtigen EU-Ländern Sicherheitsgarantien bekommen. Die Menschen in Finnland schätzen diese Garantien. Aber der Artikel 5 des Nordatlantikvertrags wird erst nach Abschluss des Beitrittsprozesses seine volle Wirkung entfalten.
Die Schweiz hält an ihrer Neutralität fest. Ist das im heutigen Europa noch möglich?
Ich sehe kein Problem damit. Es gibt ja auch EU-Mitglieder, die nicht zur Nato gehören, etwa Österreich und Irland. Aber auch diese Nicht-Nato-Mitglieder haben Solidarität mit der Ukraine gezeigt, einige liefern sogar Waffen.
Die Schweiz erlaubt Deutschland, Dänemark und Spanien nicht einmal, Waffen aus Schweizer Produktion an die Ukraine weiterzugeben.
Das ist mir bekannt. Jedes Land fällt seine eigenen Entscheidungen, ich möchte keinen Druck ausüben. Aber auch für Finnland und Schweden waren die Waffenlieferungen keine einfache Entscheidung. Auch wir hatten eine lange Tradition, keine Waffen in Konfliktzonen zu senden. Doch dann schauten wir den Artikel 51 der UNO-Charta an. Dort steht, dass jedes UNO-Mitglied, das angegriffen wird, das Recht hat, sich selber zu verteidigen und andere um Hilfe zu bitten. In dieser Situation stehen wir: Die Ukraine wurde angegriffen und hat um Hilfe gebeten. Darum müssen wir helfen.
«Auch Finnland hatte eine lange Tradition, keine Waffen in Konfliktzonen zu senden. Doch die Ukraine wurde angegriffen. Darum müssen wir helfen.»
Noch einmal: Hat Neutralität eine Zukunft im heutigen Europa?
Wie gesagt: Jedes Land muss seine eigenen Entscheidungen treffen. Im Falle der Ukraine, wo Kriegsverbrechen begangen werden und Zivilisten angegriffen werden, ist es aber schwierig, neutral zu bleiben.
Was ist das Wichtigste, was Europa derzeit für die Ukraine tun muss?
Finnland hat bisher elf Pakete mit Rüstungsgütern an die Ukraine geschickt im Gesamtwert von über 300 Millionen Euro. Aktuell bereiten wir ein zwölftes Paket vor.
Was für Waffen sind das?
Wir publizieren keine Liste, aber wir schicken schwere Waffen, die die Ukraine braucht. Derzeit diskutieren wir mit anderen europäischen Ländern die mögliche Lieferung von Leopard-II-Kampfpanzern, von denen auch Finnland einige hat.
Der Wiederaufbau der Ukraine wird enorm teuer werden. Sollen dafür auch russische Gelder verwendet werden, die aufgrund der Sanktionen eingefroren sind?
Wir prüfen die rechtlichen Möglichkeiten, ob man russische Guthaben zu diesem Zweck konfiszieren kann. Ebenfalls geprüft wird, ob man in Zukunft einen Teil der Erdöl- und Gaseinkommen Russlands für den Wiederaufbau einsetzen kann. Gleichzeitig müssen wir all jene Gremien wie den Internationalen Strafgerichtshof unterstützen, die Russland zur Verantwortung ziehen können.
Eine Enteignung russischer Guthaben wäre aus Sicht der Eigentumsgarantie höchst problematisch.
Ich weiss, dass es rechtliche Vorbehalte gibt. Aber es ist sehr wichtig, dass wir diese Möglichkeiten genau prüfen.
Welche Rolle spielt dabei die Schweiz mit ihrem bedeutenden Finanzplatz?
Ich hoffe, dass die Schweiz an Bord sein wird.
Fehler gefunden?Jetzt melden.