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«Ich konnte nicht einmal weinen»

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Einwohnerinnen und Einwohner in Beira räumen Steine zerstörter Gebäude weg. Der Wiederaufbau dauert bis heute an und ist noch lange nicht beendet.
«Die Debatte um kulturelle Aneignung ist ein Phänomen des Westens, fast eine Krankheit»: Mia Couto auf dem Lindenhof in Zürich. Foto: Dominique Meienberg
Couto stammt aus der Stadt Beira in Moçambique. Der Zyklon im März 2019 traf das Land hart, und auch die Heimatregion des Autors. Hier im Bild ein Haus in der Nähe von Beira.
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Wenn man es nicht wüsste, wäre man verblüfft: Mia Couto aus Moçambique sieht aus wie ein nachdenklicher Schweizer Geschichtslehrer. Der weiblich klingende Vorname geht auf die Verballhornung von Emilio zu Mia durch seinen jüngeren Bruder zurück, und weiss ist Couto, weil seine Eltern aus Portugal in die damalige Kolonie gezogen sind, wo er geboren und aufgewachsen ist.

Heute gehört Mia Couto zu den wichtigsten literarischen Stimmen Afrikas. Er hat Medizin studiert, sich am Unabhängigkeitskampf beteiligt, war dann jahrelang Journalist in leitender Position, bevor er noch einmal studierte: Biologie. Heute lehrt und forscht er über Umweltthemen an der Universität in Maputo. An seiner Zürcher Lesung im alten Botanischen Garten gefiel ihm besonders die durch die hohen Bäume geprägte Atmosphäre. Couto spricht Portugiesisch, das Gespräch wurde von Michael Kegler gedolmetscht.

Herr Couto, Moçambique wurde im März von verheerenden Wirbelstürmen heimgesucht, 1,5 Millionen Menschen verloren ihr Zuhause. Ihre Heimatstadt Beira war besonders betroffen.

Ich arbeite gerade an einem Buch über meine Kindheit in Beira und bin unmittelbar nach dem Zyklon dorthin. Der Pilot ist sehr tief über die Stadt geflogen. Überall war Wasser, man konnte nicht mehr unterscheiden, was Fluss und was Meer war. Die Stadt selbst sah aus, als hätte man sie kaputtbombardiert. Ich konnte nicht einmal weinen. Am Flughafen nahmen mich Freunde in Empfang, die mich trösten mussten, sie selbst hatten schon mit dem Wiederaufbau begonnen. Die Menschen dort können kleine Dinge tun, Häuser reparieren, Dächer neu decken. Aber die zerstörte Infrastruktur – Schulen, Krankenhäuser, Strassen: Die überfordert sie natürlich.

Moçambique ist ein sehr armes Land, selbst überfordert vom Wiederaufbau. Wie sieht es mit der Hilfe von aussen aus?

Es gab eine internationale Geberkonferenz in Beira. Dabei wurde etwa ein Drittel der Summe zugesagt, die nötig wäre, und es ist zu befürchten, dass auch von den zugesagten Geldern nur ein Teil fliessen wird. Der Alltag hat sich irgendwie wieder eingespielt, aber auf niedrigem Niveau. In den Krankenhäusern funktioniert nur die Grundversorgung, viele Schulen sind noch geschlossen oder in Notunterkünfte für Flüchtlinge umgewidmet.

Moçambique ist seit über 40 Jahren unabhängig, Sie haben dafür gekämpft. Wie sehen Sie Ihr Land heute?

Natürlich steht das Land heute nicht da, wo wir gewollt hätten, dass es steht. Auch nicht dort, wo es stehen könnte. Das hat Gründe. Wir hatten schliesslich nach der Unabhängigkeit 16 Jahre Bürgerkrieg, in dem viele der Errungenschaften wieder zunichtegemacht wurden. Das Netz an Schulen auf dem Land wurde komplett zerstört, die Agrarproduktion kam zum Erliegen, es gab mehrere Naturkatastrophen.

Der Bürgerkrieg wurde 1992 durch ein Friedensabkommen zwischen der regierenden Frelimo und der Widerstandsbewegung, der Renamo, geschlossen. Jetzt sind wieder Friedensverhandlungen im Gang. Warum?

Die Renamo hat damals ihre Waffen nicht abgegeben. Sie hat in der Politik eine zwiespältige Rolle gespielt: Einerseits war sie als Opposition im Parlament, andrerseits hat sie immer gedroht, den bewaffneten Kampf wiederaufzunehmen. Und das hat sie in zwei Fällen auch getan. Mit diesem Erpressungspotenzial soll ein neuer Vertrag Schluss machen. Die Verhandlungen waren auch fast abgeschlossen, als der Führer der Renamo gestorben ist. Sein Nachfolger gehört dem radikalen Flügel an, das macht die Verhandlungen komplizierter.

Meine Sorge ist, dass sich durch die ausländischen Investoren eine Kolonialwirtschaft erhält.

Mia Couto

Moçambique steht im Index für Entwicklung auf Platz 181 von 188. Ohne ausländische Investitionen wird es nicht hochkommen. Die bergen aber die Gefahr – Stichwort China –, das Land abhängig zu machen.

Die grössten Investoren in Moçambique sind nicht die Chinesen, sondern Konzerne, die Öl und Gas fördern, wie Exxon aus den USA oder Eni aus Italien. Meine Sorge ist, dass sich durch die ausländischen Investoren eine Kolonialwirtschaft erhält, die auf dem Verkauf von Rohstoffen basiert und keinen Wohlstand im Land generiert. Natürlich wünsche mir eine andere Entwicklung für das Land. Aber das ist eine Utopie.

Moçambique ist eine junge Nation mit willkürlichen Grenzen aus der Kolonialzeit, es gibt viele Sprachen, unterschiedlichen Religionen. Kann da überhaupt so etwas entstehen wie ein Nationalgefühl, eine moçambiquanische Identität?

Diese «Moçambiquanität» ist schon entstanden! Schon über den gemeinsamen Unabhängigkeitskampf. Wir waren ja alle dem gleichen kolonialen Druck unterworfen. Was uns eint, ist vielleicht nicht so sehr das gemeinsame Erinnern, sondern das gemeinsame Vergessen.

Sie meinen den Bürgerkrieg – kann man den «gemeinsam vergessen»? Ich denke an Spanien, wo man für den Bürgerkrieg erst jetzt versucht, eine Erzählung zu schaffen, die beide Seiten berücksichtigt, und das mehrere Generationen nach den Ereignissen.

Der Bürgerkrieg war ein grosses Unglück. Aber er war wenigstens kein Krieg zwischen Ethnien oder Religionen. Das Leiden an diesem Krieg war allgemein, in gewisser Weise verbindet es die Menschen sogar. Das gemeinsame Erinnern wird noch Zeit brauchen. Im Moment ist Vergessen angesagt: Eine der Bedingungen der Renamo für einen Friedensschluss war eine allgemeine Amnestie. Wir werden also die Erfahrung Spaniens wiederholen, die Aufarbeitung wird vertagt.

Europa tut so, als nähme es die meisten Flüchtlinge aus Afrika auf. Das stimmt nicht. Die meisten gehen in andere afrikanische Länder.

Mia Couto

Europa beschäftigt und besorgt der Zustrom von Flüchtlingen aus Afrika. Unter den Herkunftsländern fällt Moçambique nicht auf. Gehen die jungen Leute dort nicht weg, gibt es keinen Brain Drain?

Das Gegenteil ist der Fall. Moçambique nimmt viele Menschen aus anderen afrikanischen Ländern auf – etwa aus dem Kongo oder aus Somalia. Europa tut so, als nähme es die meisten Flüchtlinge aus Afrika auf. Das stimmt nicht: Die meisten gehen in andere afrikanische Länder – in arme Länder wie Moçambique, die oft gar nicht die Strukturen haben, so viele Menschen aufzunehmen. Viele wollen übrigens eigentlich nach Südafrika, das Europa Afrikas, und stranden erst mal bei uns.

Sie sind ein weisser Autor in einem schwarzen Land. Macht Ihnen das Schwierigkeiten, gibt es so etwas wie umgekehrten Rassismus?

Ich spüre so etwas nicht. Eher zögert man im Ausland: ein weisser Autor aus Afrika, auch noch ein Mann – wollen wir nicht lieber eine schwarze Frau einladen? Es gibt diese Suche nach Repräsentativität, manchmal auf Kosten der reinen literarischen Qualität. Das ist fragwürdig, aber ich verstehe das auch und will mich nicht beklagen.

Ihre Romane behandeln auch Themen der moçambiquanischen Geschichte. Kommt da nicht der Vorwurf der «cultural appropriation» auf: Ein Weisser, ein Abkömmling des Kolonisatorenvolks, will uns unsere Geschichte erzählen?

Das spielt eigentlich keine grosse Rolle bei uns. Diese Debatte um kulturelle Aneignung oder Anmassung ist ein Phänomen des Westens, fast eine Krankheit. In letzter Konsequenz würde das ja bedeuten, dass jeder Autor nur für sich selbst sprechen und über sich selbst schreiben kann.

Gibt es so etwas wie ein literarisches Leben in Moçambique?

Natürlich nicht so wie hier in Ihren Ländern. Es gibt nur wenige Verlage oder Buchhandlungen, die meisten in Maputo. Aber es gibt viele junge Leute, die schreiben. Neuerdings schliessen sie sich zu Lesezirkeln zusammen. 14 sollen es schon sein im ganzen Land. Einer hat sich mal bei mir zu Hause getroffen, da kamen 120 Leute, die einen ganzen Tag über Literatur diskutiert haben, vor allem über Poesie. Ich musste sie irgendwann rauswerfen …

Können sich normale Menschen Bücher überhaupt leisten?

Die Stiftung Fernando Leite Couto, die nach meinem Vater benannt ist, veröffentlicht auch Bücher, und zwar zum halben Preis. Wir arbeiten gerade an einer Reihe von Büchern, die wir sogar für umgerechnet einen Franken abgeben wollen. Das geht nur als Zuschussgeschäft. Ein normal kalkuliertes Buch kostet genau so viel wie hier in der Schweiz, ist also unerschwinglich für normale Bürger.

Wir Moçambiquer sehen den Tod nicht als Ende. Die Toten leben weiter – nur in einer anderen Form.

Mia Couto

Ihre Bücher unterscheiden sich sehr von europäischen, sie erinnern mich eher an südamerikanische. Da liegt der Begriff «magischer Realismus» auf der Hand.

Lassen wir dieses Etikett mal weg! Tatsächlich haben mich Autoren aus Lateinamerika berührt und geprägt; nicht im Sinne eines Einflusses, sondern im Sinne einer Ermutigung. Einer Befreiung vom Rationalismus in der Literatur, den wir uns selbst auferlegt hatten.

Dazu gehört, dass die Grenze zwischen Lebenden und Toten keine absolute ist. Das ist für uns westliche Rationalisten recht befremdlich.

Für uns nicht. Alle Moçambiquer, ob sie gebildete Städter sind oder einfache Bauern, sehen den Tod nicht als Ende. Die Toten leben weiter – nur in einer anderen Form. Wir Afrikaner glauben, dass die Toten den Alltag gemeinsam mit den Lebenden bestreiten, und dass man eine Harmonie im Umgang mit den Toten finden kann.

Dann müsste es in Afrika weniger Angst vor dem Tod geben?

(lacht). Das sollte eigentlich so sein – aber die Afrikaner beweinen ihre Toten genauso wie die Menschen in Europa. Aber in vielem denken sie anders als Europäer. Das betrifft das Verhältnis von Leben und Tod, aber auch von Realem und Ausgedachtem, von Belebtem und Unbelebtem. Wer sagt: «Der Baum träumt», ist in Europa ein Dichter. Hier sagt das jedermann. Und man fragt: «Wo hat ihr Auto geschlafen?» Für uns haben viele Dinge ein Leben und eine Seele, die für euch tot sind.