Globale EnergiewendeHunderte Staudammprojekte gefährden Schutzgebiete
Weltweit werden Tausende Staudämme geplant oder gebaut – mehr als 500 davon in geschützten Gebieten. Ein Grund ist der Schwenk zu erneuerbaren Energien. Doch wie sieht die Umweltbilanz solcher Anlagen aus?
Das Selous-Wildreservat in Tansania gehört zu den grössten Schutzgebieten Afrikas. Nashörner, Löwen, Wildhunde und andere gefährdete Tierarten streifen hier durch weitgehend unberührte Natur. Nun soll für ein grosses Staudammprojekt am zentralen Fluss Rufiji eine Fläche von der doppelten Grösse des Bodensees überflutet werden, betroffen sind Flusswälder, Savannen und Feuchtgebiete. Die Umweltorganisation WWF spricht von einem ökologischen «Himmelfahrtskommando» und warnt vor massiven Folgen für Mensch, Tier und Natur.
Auch in anderen Schutzgebieten sind Staudämme geplant oder werden bereits gebaut – insgesamt 509 Dämme mit einer Mindestleistung von einem Megawatt, wie die Fachzeitschrift «Conservation Letters» berichtete. Das entspricht etwa einem Siebtel aller Staudämme, die derzeit geplant oder gebaut werden.
Die Auswirkungen solcher Projekte auf die Umwelt seien vielfältig, erklärt Boris Lehmann vom Institut für Wasserbau und Wasserwirtschaft der Technischen Universität Darmstadt. So bewirke etwa die fehlende Strömung im Stausee, dass sich dort Sedimente ablagern. Das «verschlamme» wiederum den ökologisch wichtigen Porenraum an der Gewässersohle und zerstöre so Lebensraum für die Wasserfauna.
Zwar könne der Schlamm durch eine Stauraum-Spülung in den talwärts anschliessenden Gewässerlauf geschwemmt werden. Aber: «Auch hier hat das dann gewässerökologisch negative Folgen für die dortige Flora und Fauna», betont Lehmann. So könnten Fische bei zu hoher Konzentration von Feinsedimenten ersticken.
Flussfische werden vertrieben
Derzeit gibt es laut WWF weltweit mehr als 58’000 Grossdämme – also Dämme, die entweder mindestens 15 Meter hoch sind oder aber solche ab fünf Meter Höhe mit einem Fassungsvermögen ab drei Millionen Kubikmetern. Fast 24’000 davon entfallen auf China.
Der Bau solcher Staudämme verändert die Dynamik von Flüssen, wie Christiane Zarfl vom Zentrum für Angewandte Geowissenschaften der Universität Tübingen erläutert. Und weil die Dämme auch den Nachschub von Sedimenten ins Tal zurückhalten, könnten etwa Deltaregionen langfristig absinken. Dies sei angesichts steigender Meeresspiegel durch den Klimawandel besonders problematisch. «Intakte Flusssysteme erfüllen viele Funktionen für ein Ökosystem», so Zarfl. «Sie sind Transportweg, Lebensraum, liefern Nahrung, um nur einige zu nennen.»
Viele Wasserbewohner seien an Fliessgewässer als Lebensraum angepasst und benötigten diverse Gewässer- und Strömungsstrukturen, sagt der Darmstädter Experte Lehmann. Daher seien Stauräume keine geeigneten Ersatzhabitate für Fliessgewässer-Organismen. So seien einige Wasserbewohner darauf angewiesen, Fliessgewässern entlang des Laufs zu folgen, um zwischen unterschiedlichen Arealen zu wechseln. Als Beispiele nennt Lehmann den Wechsel zwischen Laich- und Aufwuchshabitat etwa bei Bachforellen sowie verschiedene Lebensräume im Sommer und im Winter. Ferner suchten manche Fische Rückzugsräume bei Hoch- und Niedrigwasser.
Staudammprojekte gefährden Schutzgebiete
Gerade mit Wanderbewegungen könnten sich Fische zudem an den Klimawandel anpassen, der Temperatur und Wasserqualität beeinflusse, ergänzt Christian Wolter vom Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). «Eine mögliche Anpassung von Flussfischen an Klimaveränderungen ist es, sich neue Lebensräume zu erschliessen. Staudämme behindern diese Anpassung und reduzieren so den heutigen und den zukünftigen Lebensraum für einheimische Fischarten.» In Schutzgebieten sei diese Situation besonders prekär, weil diese Areale gerade dazu da seien, eine Flusslandschaft und ihre Bewohner zu bewahren.
Nationalparks, Naturreservate und andere geschützte Gebiete seien essenziell für den Erhalt der biologischen Vielfalt. Weltweit gebe es mehr als 200’000 Schutzgebiete, die nach Schätzungen der Forscher 15 Prozent der Landflächen und Binnengewässer umfassen. Dennoch würden Schutzgebiete immer wieder – unter anderem für den Bau von Staudämmen – durch staatliche Eingriffe entweder herabgestuft, verkleinert, oder ihr Schutzstatus werde sogar vollständig aufgehoben. Die Studie verweist auf weltweit mehr als 3000 dokumentierte solche Fälle.
Erfolgreich Staudämme verhindert
Doch nicht immer können Bauträger Staudammprojekte in geschützten Gebieten durchsetzen. So wurde etwa in Brasilien 2016 eines der damals grössten solchen Vorhaben gestrichen. Damals verweigerte die Umweltbehörde die für den Bau des Projekts «São Luiz do Tapajós» am Tapajós-Fluss im Bundesstaat Pará notwendige Umweltlizenz. Geplant war ein Mega-Staudamm über 7,6 Kilometer Länge. Das geplante Wasserkraftwerk sollte über 8000 Megawatt Leistung haben, das entspricht etwa sechs Atomkraftwerken der Grössenordnung von Gösgen.
Trotz gelegentlicher solcher Erfolge schätzen die Wissenschaftler die Gefahr für weitere Eingriffe in Schutzgebieten durch Staudammprojekte als hoch ein. Das habe vor allem mit dem Wechsel von fossilen Energieträgern hin zu erneuerbaren Energien wie Wasserkraft zu tun, schreiben sie.
«Für das Ökosystem Fluss haben Staudämme keine Vorteile.»
Aber können Staudämme in Ökosystemen nicht auch Vorteile bieten? «Ich würde nicht von Vorteilen für Ökosysteme sprechen, die Ökosysteme verändern sich dadurch», erklärt die Tübinger Forscherin Christiane Zarfl. Wenn ein Staudamm lange bestehe, entwickelten sich dort vielleicht Lebensräume mit Erholungswert für Menschen. «Sie haben jedoch im Vergleich zu einem natürlichen Fliessgewässer meist eine geringere Biodiversität und Auswirkungen, die sich über längere Strecken flussabwärts ziehen können.»
Ähnlich sieht es der IGB-Experte Wolter: «Für das Ökosystem Fluss haben Staudämme keine Vorteile. Es gibt Tier- und Pflanzenarten, die natürlicherweise in Seen leben, oder ubiquitäre Arten, die von den neu entstandenen Stauseen profitieren. Diese Arten sind jedoch für den Fluss nicht typisch, und damit ist diese Veränderung der Fauna auch nicht zielführend.»
Ricarda Bohn vom Konzern Voith Hydro, einem weltweit führenden Ausrüster für Wasserkraft-Anlagen, verweist dagegen auf Nachhaltigkeitsprüfungen, um Wasserkraftwerke und deren Bau so umweltverträglich wie möglich zu gestalten. «Sie sind die Basis für die Bewertung, ob ein Projekt zum Beispiel umweltverträglich gebaut werden kann und überhaupt genehmigt wird.»
Vorteile der Wasserkraft
In ihrer Analyse fand der WWF etwa 1250 grosse Dämme in Schutzgebieten. Das entsprach etwa 20 Prozent aller Grossdämme in den untersuchten Regionen. Meist dienen die Anlagen zur Gewinnung von Wasserkraft oder zur Bewässerung.
Gerade bei jenen Staudämmen, die Wasserkraft erzeugen, stellt IGB-Mitarbeiter Wolter jedoch den wirtschaftlichen Nutzen infrage. In Deutschland etwa würden 85 Prozent des Stroms aus Wasserkraft von 146 Anlagen erzeugt. Insgesamt gebe es aber 7700 Wasserkraftanlagen. «Bedeutet: Die 7500 kleinen Anlagen produzieren insgesamt nur 15 Prozent der gesamten Elektrizität aus Wasserkraft.» Zudem habe Strom aus Wasserkraft im deutschen Strommix einen Anteil von gerade einmal 3 Prozent. «Da stellt sich die Frage der Umweltfreundlichkeit der kleinen Wasserkraft nicht mehr.»
Ricarda Bohn von Voith Hydro widerspricht: Auch kleine Wasserkraftanlagen trügen erheblich zu CO2-Einsparungen bei. «Zudem gibt es in Deutschland sehr hohe ökologische Anforderungen an die Wasserkraft, wie beispielsweise Mindestwasserführung, Durchgängigkeit der Gewässer oder Fischschutz.» Generell biete Wasserkraft grosse Vorteile hinsichtlich globaler Entwicklungen wie dem Klimawandel. «Bei Wasserkraftprojekten geht es darum, die gesamte Nachhaltigkeit im Auge zu behalten, das heisst, die wirtschaftlichen, die sozialen und die ökologischen Aspekte auszubalancieren», sagt Bohn.
Trotz möglicher CO2-Einsparungen zweifelt Wolter an der Klimafreundlichkeit von Wasserkraftanlagen. «Insbesondere Stauseen in den Tropen emittieren grosse Mengen Methan, welches weitaus klimaschädlicher ist als CO2», sagt der IGB-Forscher. Hinzu kämen unter anderem die Folgen des unterbrochenen Sedimenttransports und der Tiefenerosion unterhalb der Stauwerke, also die durch Erosion fortschreitende Vertiefung des Flussbettes. «Bei einer Vollkostenrechnung sind selbst die meisten grossen Wasserkraftanlagen nicht umweltfreundlich», so Wolter.
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