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«Hässlichkeit» von Moshtari Hilal
Sie erzählt, was Schönheit mit Hass zu tun hat

Moshtari Hilal fragt: «Wie viel Kontrolle über unser Aussehen bleibt uns, wenn es andere sind, die unsere Körper pflegen, berühren, ansehen?»
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«Bevor ich in den Raum trete, tritt meine Nase ein.» Damit beginnt die Selbstbefragung der Künstlerin Moshtari Hilal. Ihre Kindheit war von rassistischen Erfahrungen geprägt: die markante Nase, die Körperbehaarung. Als die übergriffige Tante dem Mädchen Creme über die Oberlippe schmierte, um dort die Haare wegzuätzen, versucht sich das Kind einzureden, dass nur eine Mutter ein hässliches Kind lieben kann. Die Mutter behält immerhin das Foto aus der Schulzeit ihrer Tochter, für das sie andere «Pferdefresse» nannten.

Das Streben nach Schönheit sei laut Moshtari Hilal der Wunsch, nicht gehasst zu werden. «Wir wollen nicht schöner sein, sondern vollkommen Mensch» und so von anderen akzeptiert, schreibt sie.

«Hass» und «Hässlichkeit» sind dabei etymologisch tatsächlich verwandt. Laut Hilal existiere Hässlichkeit nicht ohne die Idee von Schönheit, einem Ideal, dem alle hinterherhecheln und das ein westliches und rassistisches sei.

Hilals Buch «Hässlichkeit» ist eine Collage. Screenshots und Zeichnungen stehen wissenschaftlicher Literatur, autobiografischen Erzählungen und autoaggressiver Lyrik von bemerkenswerter sprachlicher Intensität gegenüber.

Glücklicherweise begegnen wir keiner Bewältigungsliteratur, die im Ratgeber-Duktus sagt: Früher fand ich mich hässlich, heute liebe ich alles an mir. Die einnehmende Stimme der Autorin kommt ohne Body-Positivity-Gesülze aus.

Die Künstlerin leuchtet in «Hässlichkeit» den utopischen Ort im Schatten einer Nase aus.

Hilal geht in die Geschichte zurück, wenn sie vom «Nasenjoseph» erzählt, dem plastischen Chirurgen Jacque Joseph, der Menschen mit einer «jüdisch wirkenden Nase» half, diese zu richten. Berichtet von den «Ugly Laws» im Amerika des 19. Jahrhunderts, die deformierte, kranke und obdachlose Menschen von gesellschaftlichen Orten ausschlossen. Ihr Anblick würde die elitäre Ordnung irritieren.

Erschütternd ist auch Hilals Erzählung von einer Leprakolonie Anfang des 20. Jahrhunderts in Griechenland, die uns die zeitlose Frage stellt: Wie schauen wir Krankheit an?

Moshtari Hilal hat überhaupt erstaunliche Beispiele sozialer Mechanismen in der Geschichte gefunden, die dieses Buch so erhellend machen. Sie zeigen, dass alle Schönheitsideale, auf die wir heute setzen, ihren Ursprung in historischer Dehumanisierung haben.

Heute noch gilt der Iran weltweit als das Land, in dem die meisten Nasenoperationen gemacht würden. Die Nachfrage für eine «europäische Nase» (Verkleinerung, Entfernung des Höckers und Anhebung der Spitze) sei hoch, schreibt Hilal. Wer sich das nicht leisten kann, kauft sich in der Apotheke ein spezielles Pflaster, denn allein das öffentliche Imitieren einer Nasenoperation sei Statussymbol.

Leider eilt die Autorin hie und da zu schnell von Darwin zu Susan Sontag und zurück. Sie zeigt dann zwar, dass sie viel gelesen hat, das geht aber auf Kosten der eindringlichen biografischen Berichte.

Das Gegenteil von Hässlichkeit ist nicht Schönheit, sondern Liebe.

«Hässlichkeit» beginnt und endet mit der Mutter von Moshtari Hilal. Als diese erkrankt, pflegt die Tochter sie bis zum Tod. Die Tochter findet den sterbenden Körper gar nicht mehr hässlich, auch wenn sie ihn fürchtet. Und trotzdem: «Das Sterben des geliebten Menschen bleibt das Hässlichste.»

Gewisse Bestattungsunternehmen in den USA würden übrigens die Gesichter der Toten mit «Feature Filler» aufspritzen, um die letzte Leere vor den Angehörigen zu kaschieren, denn wer möchte schon dem Tod ins Gesicht sehen? Das führt uns vor, wie lächerlich wir uns im Verdrängen der eigenen Sterblichkeit anstellen.

An welche Bilder haben sich unsere Blicke gewöhnt? Diese Frage stellt das Buch.

Eine Erkenntnis, die man aus «Hässlichkeit» zieht: Das Gegenteil von Hässlichkeit ist nicht Schönheit, sondern Liebe. Und es ist auch klar, was zu tun ist: Wir müssen in die Welt, in die unvorhersehbare Wirklichkeit hineintreten. Und im Wissen darum, dass wir in der Akzeptanz unserer Menschlichkeit und Sterblichkeit Versöhnung finden, Erfahrungen sammeln. Erfahrungen, die uns zeigen, was ein Körper alles erträgt und aushält.

Moshtari Hilal: Hässlichkeit. Hanser-Verlag, 2023. 224 S., ca. 29 Fr.