Interview zur Faszination 100-Meter-Lauf«Die schnellste Frau kennt fast niemand. Warum?»
In der Königsdisziplin der Leichtathletik hält Florence Griffith-Joyner seit 36 Jahren den Rekord – Mikael Krogerus und Christof Gertsch haben sich an ihre Fersen geheftet.
Der 100-Meter-Lauf ist der älteste Wettkampf der Welt – und die herausforderndste Disziplin der Leichtathletik. Usain Bolt stellte 2009 mit 9,58 Sekunden den Rekord der Männer auf. Bei den Frauen gilt seit 36 Jahren die Bestmarke von 10,49 Sekunden, gelaufen 1988 von der US-Amerikanerin Florence Griffith-Joyner. Zehn Jahre später starb sie unter mysteriösen Umständen.
Die «Magazin»-Journalisten Christof Gertsch und Mikael Krogerus haben sich für eine neue Podcast-Serie eingehend mit dieser Ausnahmesportlerin befasst. Zum Start der Serie – und im Vorfeld der Olympischen Spiele in Paris – sprechen wir mit den beiden über die Faszination 100-Meter-Lauf und über eine Athletin, die die Sportwelt veränderte – und zu Unrecht vergessen ging.
Christof Gertsch, Mikael Krogerus, wie fühlt es sich eigentlich an, in rund 10 Sekunden 100 Meter zu laufen?
Christof Gertsch: Ich glaube, man kann sich das als Nichtsprinter kaum vorstellen. Die besten Läuferinnen und Läufer der Welt beschleunigen teils auf über 40 Kilometer pro Stunde. Um wenigstens eine Vorstellung zu bekommen, was das heisst, haben wir Mujinga Kambundji herausgefordert – die schnellste Frau der Schweiz und Europas. Mikael ist auf der Tartanbahn in Bern gegen sie angetreten.
Mikael Krogerus: Mir war natürlich klar, dass ich mich blamieren und haushoch verlieren werde. Mujinga Kambundji ist 32 und eine Weltklasseläuferin. Ich bin 47 Jahre alt und habe einen gerissenen Innenmeniskus. Es war ein wenig wie beim Lauberhornrennen: Es ist eine Sache, sich das im Fernsehen anzuschauen, und es ist etwas ganz anderes, in Wengen oben am Start zu stehen und die Piste runter zu schauen. Da versteht man erst, was für ein Wahnsinn das ist.
Sie haben diesen Lauf auf sich genommen, um die Mechanik des 100-Meter-Laufs besser zu verstehen. Was macht die Faszination dieser Disziplin aus?
Gertsch: Der Sprint ist einer der ältesten Wettkämpfe der Welt. Bereits in der Antike wurden olympische Wettläufe durchgeführt. Ich denke, die Faszination des 100-Meter-Laufs ist seine Einfachheit. Man braucht keine Ausrüstung, keinen Ball, kein Spielfeld, kein Netz, keine Taktik und auch keine Mannschaft. Streng genommen braucht man nicht einmal Schuhe dafür. Der 100-Meter-Lauf ist ein Ereignis, das für ein paar kurze Sekunden alles Überflüssige und Komplizierte entfernt, das den Sport oft auch nervig macht.
Macht diese Reduktion aufs Wesentliche den 100-Meter-Lauf zur Königsdisziplin der Leichtathletik?
Gertsch: Für mich ist es die Königsdisziplin des Sports überhaupt. Andere Sportarten sind zwar populärer, haben mehr Publikum, mehr Geld wird damit verdient. Aber der 100-Meter-Lauf steht am Ursprung aller Wettkämpfe. Manche sagen, der Sprint sei ein Überbleibsel der menschlichen Evolution, eine Metapher für die Flucht. Bewegung bedeute Überleben. In der Traumdeutung ist das Rennen und Nicht-vom-Fleck-Kommen eines der bekanntesten Symbole: Ausdruck von Urängsten der Lähmung, der Stagnation, des Vertrauensverlusts in die eigenen Fähigkeiten. Der Sprint ist aber auch eine Metapher für die Zeit, in der wir leben: Schnelligkeit scheint oft unser einziger Gradmesser für Fortschritt zu sein. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
«Die hohen Knie wird man an den Olympischen Spielen in Paris wieder gut sehen können.»
Der älteste registrierte Weltrekord wurde 1912 in Stockholm aufgestellt – und betrug 10,6 Sekunden. In über 100 Jahren wurde der Mensch ziemlich genau eine Sekunde schneller. Ist das viel? Oder wenig?
Krogerus: Einerseits ist das sehr viel, denn heute entscheiden ja Hundertstelsekunden über Sieg oder Niederlage. Andererseits ist es nicht viel. Wenn man bedenkt, dass damals Amateure ohne moderne Trainingslehre in schweren Schuhen auf einer Aschenbahn gerannt sind, ohne Doping – dann sind 10,6 Sekunden beeindruckend schnell.
Was sind die grössten Veränderungen seither?
Gertsch: Die Laufbahn, die Schuhe, das Training – alles wurde raffinierter. Steffen Willwacher, Professor für Biomechanik an der Hochschule Offenburg, wies uns während unserer Recherche auf etwas besonders Interessantes hin: Rekordhalterin Florence Griffith-Joyner lief vor 36 Jahren mit einer Technik, die heute erst als Standard gilt, das «Vor-dem-Körper-Laufen». Es klingt kontraintuitiv, weil Laien sich eher weit abstossen, also «hinter dem Körper laufen» wollen. Die besten Sprinterinnen hingegen versuchen heute, die Knie möglichst weit vor dem Körper hochzuheben, dann gestreckt das Bein aufzusetzen. In der kurzen Bodenkontaktzeit können sie so maximale Kräfte aufbringen. Die hohen Knie wird man nun auch an den Olympischen Spielen in Paris wieder gut sehen können.
Florence Griffith-Joyner stellte ihren Rekord von 10,49 Sekunden 1988 auf. Genau zu diesem Zeitpunkt verlor der 100-Meter-Sprint seine Unschuld.
Gertsch: Einen Tag nach ihr, am 26. September 1988, wurde bekannt, dass der Kanadier Ben Johnson, der zuvor in Weltrekordzeit Olympiagold gewonnen hatte, positiv auf Doping getestet worden war. Dieser Skandal teilt die Geschichte des Sports in zwei Abschnitte: in ein Davor und in ein Danach. Es ist nicht so, dass davor nicht gedopt wurde. Aber die Öffentlichkeit wusste vor 1988 nicht viel darüber. Seither ist allen klar: Wer im Sport Spitze ist, hat möglicherweise unerlaubt nachgeholfen. Sechs der acht Männer, die 1988 den Olympiafinal über 100 Meter liefen, wurden früher oder später des Dopings überführt. Florence Griffith-Joyner wurde nie positiv getestet – aber die Gerüchte, dass sie bei ihrem Rekordlauf möglicherweise gedopt war, halten sich hartnäckig. Heute ist die Situation – auch mit Blick auf Paris – sicher eine andere. Zwar entwickelt sich Doping immer weiter, aber auch die Anti-Doping-Massnahmen sind an einem völlig anderen Punkt als 1988.
Ihr habt euch für eine neue Podcast-Serie mit dem Leben und dem Rekordlauf von Florence Griffith-Joyner beschäftigt. Was hat euch an ihr fasziniert?
Gertsch: Uns ist etwas Kurioses aufgefallen: Den schnellsten Mann der Welt, den kennen fast alle. Die schnellste Frau der Welt konnte uns fast niemand nennen. Warum?
Krogerus: Für mich war es eine Zeitreise in meine Kindheit. Ich habe 1988 als Elfjähriger die Olympischen Spiele von Seoul im Fernsehen gesehen und mich beim 100-Meter-Lauf in diese Frau verliebt – so wie man sich als Kind eben verliebt: Ich war fasziniert von ihr, wie sie aussah, aber auch wie sie lief, so leicht, als müsste sie sich gar nicht anstrengen. Wir haben uns gefragt, wie Florence Griffith-Joyner das gemacht hat. Die kurze Antwort lautet: Sie war halt vielleicht doch gedopt. Die lange und weitaus interessantere Antwort geben wir im Podcast.
Gertsch: Für mich als Sportjournalist war Florence Griffith-Joyner lange ein Synonym für Doping. Dabei wurde ihr nie etwas nachgewiesen. Warum haftet ihr dieser Vorwurf dennoch bis heute an? Die Suche nach einer Antwort war auch für uns ein Lehrstück. Über Vorurteile, über voreilige Schlüsse und über die Medienöffentlichkeit. Ohne zu viel zu verraten: Im Verlauf der Recherche musste ich meine Meinung ziemlich revidieren.
Warum sollte jemand mit wenig Bezug zur Leichtathletik diesen Podcast hören?
Krogerus: Weil es in dieser Geschichte um sehr viel mehr geht als um Sport. Man liest ja auch nicht «Moby Dick», weil man sich für Walfang interessiert. Florence Griffith-Joyner war zum Beispiel nicht nur eine Ausnahmesportlerin. Sie war auch eine Modeikone – in gewisser Weise der allererste Influencer, die erste Marke der Sportwelt. Der Podcast ist also eine Reise zurück in die Ära der 1980er, es geht aber auch um Sexismus und Rassismus, um eine grosse Liebe, es geht um einen Traum, der zum Albtraum wird, um ihren tragischen Tod und um Geheimnisse, die verborgen bleiben sollen.
Gertsch: Ich bin – im Gegensatz zu Mikael – eher nicht der Typ, der sich in Leute im Fernsehen verliebt, aber auch ich muss sagen: Das ist eine total berührende Geschichte. Eigentlich müsste es über Flo-Jo längst einen Hollywoodfilm geben, ein Buch, eine Netflix-Serie. All das gibt es nicht. Da dachten wir halt: Wenn Hollywood es nicht macht, erzählen wir eben diesen ganzen Wahnsinn.
Hinweis: Dieses Interview ist in voller Länge auch als Folge des täglichen Podcasts «Apropos» zu hören.
mga/los
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