Neuer MittelalterromanFabulierlust zwischen Herrgott und Teufel
«Der Halbbart» heisst das jüngste Werk von Charles Lewinsky. Im Vordergrund steht das Geschichtenerzählen – und die Schlacht am Morgarten.

Gings in seinem letzten Roman «Der Stotterer» um die Beziehung zwischen Lüge und Literatur, so wendet sich Charles Lewinsky in seinem aktuellen Buch «Der Halbbart» einem Finöggel zu. Einem braven Schwyzer Buben im Jahr 1313, der für die Landwirtschaft nicht taugt, weil er ein Sprenzel ist. Den Pflug vermag er nicht richtig in die Erde zu drücken, weil ihm die Kraft dazu fehlt.
Dieser Eusebius – von allen Sebi genannt – hat zwei ältere Brüder. Den Polykarp und den Origenes. Letzterem, von allen Geni gerufen, geschieht schon ganz am Anfang des Buches Unheil. Bei der Waldarbeit verliert er ein Bein. Der mittlere Bruder «Poli» ist ein Draufgänger, ein Unruhestifter, ein Grosshans.
Und wer ist nun der titelgebende «Halbbart»? Das ist ein Zugewanderter aus Korneuburg im heutigen Niederösterreich. Ein Versehrter. Die halbe Gesichtshälfte von Brandwunden zerstört, körperlich ein Wrack. Aber gescheit und gebildet.
Der Leser braucht nicht viel detektivisches Gespür, um herauszufinden, was es mit dem Halbbart auf sich hat: Er ist Jude – obwohl das im Buch nie explizit gesagt wird – und hätte zusammen mit Samuel und Rebekka – seiner Tochter? – verbrannt werden sollen. Wegen angeblichen Hostienfrevels.

Diese titelgebende Gestalt wird zum Freund und Mentor des Sebi, der eigentlichen Hauptfigur. Und die Geschichte des Sebi ist im Grunde nichts anderes als eine Coming-of-Age-Geschichte: Der naive, aber gescheite Junge muss herausfinden, welche Rolle er im Leben zu spielen hat. Was er kann und was er nicht kann.
Sein kurzer Aufenthalt im Kloster Einsiedeln – zum Benediktiner meinte er berufen zu sein – endet im Fiasko. Und ist für ihn auch ein Augenöffner, weil er etwas Abscheuliches beobachtet. Am Ende wird er Geschichtenerzähler, Schriftsteller recht eigentlich. Dem Stotterer nicht unähnlich. Und seinem geistigen Schöpfer Lewinsky auch nicht. Denn der widmet das Buch seinem Bruder Robert, «mit dem ich das Fabulieren schon früh geübt habe».
Pakt mit dem Leser
In unserem Interview zum Erscheinen von «Der Stotterer» sagte Lewinsky im März 2019: «Der Schriftsteller beutet seinen Leser nicht aus, sondern schliesst einen Pakt mit ihm: Ich verspreche, dich nicht zu langweilen, und du glaubst mir dafür, was ich erzähle.»
Die zweite Hälfte dieses Paktes löst sich bei «Der Halbbart» ohne weiteres ein. Man nimmt Lewinsky die Geschichte ab. Sie ist glaubwürdig erzählt. Obwohl weit zurückliegend und in einer Zeit spielend, über die man wenig weiss, kommt dieser Sebi doch als Gestalt aus Fleisch und Blut daher. Er ist nicht bloss Skizze oder flache Comicfigur, sondern wirkt echt, facettenreich.
Und Lewinsky unterläuft kaum ein Anachronismus. Was nicht ganz einfach ist, wenn ein Schriftsteller seinen Stoff so weit in der Vergangenheit ansiedelt. Nur als sein Bruder Geni dem Sebi ein Rasiermesser zu kaufen verspricht, fragt man sich kurz: Wohin gehen sie? Migros oder Coop?
Die erste Hälfte des Pakts erweist sich in diesem Fall als die schwierigere. Lewinsky vorzuwerfen, er verbreite mit diesem Buch Langeweile, ginge allerdings zu weit. Langweilig ist es nicht. Langfädig trifft es besser.
677 Seiten im stets gleichen Tonfall aus der stets gleichen Perspektive fast schon tagebuchartig erzählt – das ist manchmal zäh. Es wirkt zwar sehr authentisch, Lewinsky sorgt auch für genügend Orts- und Szenenwechsel und genügend interessante Nebenfiguren, entlässt seinen Sebi auch immer mal wieder etwas in die Welt hinaus. Aber da sein Schöpfer ihn fast nur aus dem Rückblick in indirekter Rede berichten lässt, fehlt der Schwung, die Unmittelbarkeit.
Es gibt in der Erzähltheorie der Amerikaner den weisen Ratschlag: «Show, don’t tell!» Etwa so zu übersetzen: «Lass deine Figuren aktiv etwas erleben, statt passiv aus der Rückschau davon zu erzählen.» Man wünschte sich, Lewinsky hätte sich an diese Devise gehalten. Oder sein Muster gelegentlich unterbrochen, auch wenn man seine Absicht natürlich durchschaut: diesen Bericht eines Geschichtenerzählers in 83 Kapiteln quasi zu einem historischen Dokument zu machen. Oder mindestens in eine Form zu bringen, die wirkt, als sei es ein Text aus jener Zeit. Darauf verweisen alleine schon die Kapitelüberschriften: «Das vierundfünfzigste Kapitel – in dem es wüst zugeht» und so weiter.
«Erzählen ist wie Seichen»
Immerhin: Diese wilde Fabulierlust zwischen Herrgott und Teufel, die wohl zu Figuren des späten Mittelalters passen mag, verleiht dem Buch durchaus auch Zug. Der Leser will wissen, wie es weitergeht. Nur würde er es manchmal gerne schneller, direkter wissen, ohne x-fache Umschweife. Die Ungeduld unserer Zeit vermutlich.
Diese Fabulierlust, die sich Charles Lewinsky ja durchaus selbstbewusst auch zugesteht, erinnert den Leser übrigens gelegentlich auch an eine ganz andere Figur des Zürcher Schriftstellers und Drehbuchautors: Man darf sich den schlauen und etwas naiven Sebi gerne als Verwandten von Flip aus «Fascht e Familie» vorstellen. Immer eine Geschichte auf Lager, immer eine Ausrede parat, immer mit geschliffenem Mundwerk. Oder, wie es Sebi formuliert: «Erzählen ist wie Seichen, wenn man einmal damit angefangen hat, ist es schwer, wieder aufzuhören.»
Charles Lewinsky: Der Halbbart. Diogenes-Verlag, Zürich 2020. 677 S., ca. 35 Fr.
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