Exzentrischer Sprintstar«Ich bin besser, ich bin stärker, und ich bin klüger»
Die US-Amerikanerin Sha’Carri Richardson ist der Star der WM in Budapest. Sie will nicht länger eine Inszenierung sein – sondern die Athletin, die es zu schlagen gilt.
Bei der Medaillenübergabe fällt der Panzer endgültig. Sha’Carri Richardson steht auf der Bühne vor dem Stadion, und der Moderator erzählt von der schnellsten Frau der Welt. Es sind die grossen Worte, ihr erster grosser Titel und die Hymne, die in den vergangenen Jahren immer für andere gespielt wurde, welche die Tränen fliessen lassen. Seit Anfang Saison hat die US-Amerikanerin mantrahaft betont, sie sei «nicht zurück, ich bin besser».
Besser als bei ihrem Coup über 100 m in 10,65 Sekunden war sie tatsächlich nie. Und: Es waren auch erst vier Frauen je schneller. Und besser war sie auch über 200 m: in 21,92 gab es eine Bestzeit und Bronze – Titelverteidigerin Shericka Jackson (JAM) schrammte in 21,41 nur 7 Hundertstel am Weltrekord vorbei.
Bitte die Aussprache merken!
Die Leichtathletik hat ihren neuen Superstar, weiss aber noch nicht so recht, wie mit der exaltierten und scheinbar extrovertierten 23-jährigen Texanerin umzugehen ist. Das fängt ganz einfach bei der Ansprache an: Als ihr Vorname bei der Medienkonferenz zum wiederholten Mal irgendwie ausgesprochen wird, verliert sie die Geduld und bittet, sich doch endlich die Aussprache «She-kerri» zu merken. Also.
Die Geschichte der nur 1,55 m grossen Athletin ist die einer jungen Frau, die schon seit Jahren davon träumt, die Grösste zu sein, Weltmeisterin, Olympiasiegerin. Ihr Aufstieg ist rasant und ihre Erscheinung schrill. Unter ihren grellfarbenen Perücken, ihren unzähligen Tattoos, den überlangen Fingernägeln, von denen jeder sein eigenes Kunstwerk ist, verbirgt sich aber ein Mensch, der sich noch sucht. Bisweilen haben ihre Outfits solch groteske Züge, dass man gut versteht, wenn sie jetzt, da sie die Grösste ist, sagt: «Ich bin mir selbst drei Jahre im Weg gestanden. Jetzt bin ich im Einklang mit mir.» Gut möglich, dass sie diese Aussage nicht nur auf den Sport bezieht, sondern auch auf ihre Bisexualität.
Schon als 19-Jährige sprintet Richardson im College 10,75 Sekunden – eine Zeit in den Top Ten der Allzeitbestenliste. Deshalb ist die Uni nur ein ganz kurzes Gastspiel: Wer derart begnadet über die Bahn fliegt, und das tut sie in hoher Frequenz und mit minimaler Bodenberührung, der hat seine Berufung gefunden. Sie wird Profi-Athletin – doch durch die Corona-Pandemie erst einmal gestoppt. Dass sie sich bei der Trainerwahl für Dennis Mitchell entscheidet, lässt jedoch an ihrer Urteilskraft zweifeln. Er ist ein einstiger Sprint-Olympiasieger und -Weltmeister, der 1998 wegen Dopings für zwei Jahre gesperrt wurde.
«Ich weiss, was ich darf und was nicht, und habe es trotzdem getan.»
Richardson hat Anfang dieses Jahres ihre Ziele klar definiert: «Das tun, was ich schon die letzten beiden Jahre hätte tun sollen.» An Olympia und der WM glänzen. Doch als sie sich im Sommer 2021 für Tokio qualifiziert und die US-Leichtathletik glaubt, den nächsten Sprintstar an den Start bringen zu können, wird nichts daraus. Der mittlerweile 21-Jährigen wird in einer Dopingkontrolle kurz vor den Spielen Marihuana nachgewiesen, sie wird für 30 Tage gesperrt, für die Reise nach Japan reicht es knapp nicht.
Der Regelbruch war ihr anscheinend bewusst gewesen. «Ich weiss, was ich darf und was nicht, und habe es trotzdem getan», sagt sie. Sie tat es, um den Verlust ihrer leiblichen Mutter besser zu verkraften. Diese starb eine Woche vor Richardsons Qualifikationslauf für Tokio.
Später, als der Dopingfall Kamila Waljewa im Eiskunstlauf bekannt wird, fühlt sich Richardson ungerecht behandelt. In den sozialen Medien fragt sie sich, wieso das so sein kann, und führt ihren Ausschluss auf ihre Hautfarbe zurück. Waljewa war ebenfalls kurz vor den Winterspielen 2022 Doping nachgewiesen worden – starten durfte die Russin dennoch.
Budapest wird darum zu ihrer WM-Premiere, weil sie im vergangenen Jahr ganz einfach zu schwach gewesen war. Welchen Wandel sie seither aber durchgemacht hat – äusserlich und sportlich —, inszeniert sie bei den Trials sogar auf der Bahn: Im Vorlauf noch mit ihrer feuerroten Perücke, welche die Vergangenheit symbolisieren soll, zieht sie diese nachher aus und verkündet: «Ich bin noch immer dieselbe Frau. Aber ich bin besser, ich bin stärker, und ich bin klüger.»
2,6 Millionen Follower hat Sha’Carri Richardson auf Instagram. Es ist ihre andere Bühne, auf der sie sich produziert, meist selbstverliebt und ganz ohne Panzer. Wenn sie ein jüngeres Publikum anzieht, schadet das auch der Leichtathletik nicht.
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