Neuer Roman von John IrvingErfrieren auf dem Sessellift und andere Todesarten
Auf mehr als 1000 Seiten schreibt der amerikanische Starautor über eine liebe LGBT-Familie, bigotte Tanten, durchdringende Orgasmen und vieles mehr.

«Lang erwartet» – das schreiben Kritiker gern über einen Roman, auch wenn, wie im gerade aktuellen Fall von Stuckrad-Barre, die Erwartung sich nicht so sehr auf literarische Qualität als vielmehr auf unappetitliche Details aus dem Springer-Innenleben richtete. John-Irving-Fans dagegen erhoffen sich vom neuen Oeuvre ihres Meisters vor allem verwickelte Action, unkonventionelle Familienkonstellationen, groteske Un- und Todesfälle. Und viel Sex. Auf all das haben sie tatsächlich lange, nämlich sieben Jahre, warten müssen. Dafür ist Irvings neues Opus auch das umfangreichste geworden, über tausend Seiten lang.
«Überlebt» habe er die Lektüre, stöhnte der Rezensent der «New York Times», und auch der Kritiker dieser Zeitung hat die überlange Lesezeit nicht als reinen Genuss erlebt. «Der letzte Sessellift» erzählt in der Ich-Form von Adam Brewster, einem erst angehenden und später erfolgreichen Schriftsteller, und seinen Nächsten: Da ist die Mutter Rachel, genannt Little Ray, Skilehrerin, im Winter meist abwesend, 1 Meter 58 gross, und ihr Ehemann Elliott Barlow, Englischlehrer, 1 Meter 45. Ihre Hochzeitsnacht verbringt die Mutter allerdings mit ihrer Freundin Molly, und Elliott verwandelt sich im Lauf des Buches in eine Frau.
Ein Gespenst in Windeln rafft die bigotten Tanten dahin
Dann sind da noch Adams aktivistische Cousine Nora und ihre Freundin Emily, genannt Em, die als lesbisches Comedy-Duo in einem Gallow-(Galgen)-Club auftreten. Em spricht nicht, dafür sind ihre Orgasmen derart durchdringend, dass in einem Hotel der Kellnerin im Speisesaal das Tablett aus der Hand fällt und andere Gäste sich noch nach Jahrzehnten daran erinnern. (Auch der Autor erinnert sich noch 800 Seiten später daran.)
Nora wird auf offener Bühne von einem Frauen- (oder Lesben?-)Hasser erschossen. Elliotts Eltern sterben unter einem umgekippten Bahnwaggon. Adams bigotte Tanten rafft der Anblick eines Gespenstes in Windeln dahin, und Ray und Elliott suchen gemeinsam den Erfrierungstod auf einem Sessellift, unterstützt durch Valium und Alkohol.

So viel zu Irvings Art, sein Personal auf möglichst spektakuläre Art um die Ecke zu bringen. Sehr feinfühlig geht er aber auch zu Lebzeiten nicht mit ihm um. Nicht nur Nebenfiguren werden auf ein Attribut reduziert – Adams erste Freundinnen etwa auf «die Bluterin» oder «die Bettscheisserin» (beide Bezeichnungen rühren jeweils von einer verunglückten Sexszene her, die slapstickhaft sein soll, aber eher für einen eher infantilen Sexual- oder Fäkalhumor zeugt). Adams Grossvater, ehemals Direktor einer Schule, erscheint nur als «der demente Emeritus» oder «der Windelträger». Er übrigens, um das noch nachzutragen, wird vom Blitz erschlagen, als er Krockett-Tore auf einen Grill legt.
Seine Kalendersprüche sind nicht weise, sondern banal
In seinem queeren Umfeld ist der heterosexuelle Adam der Aussenseiter, allerdings ein von allen geliebter – wie überhaupt in der LGBT-Familienblase alle auf vorbildlichste Weise fürsorglich miteinander umgehen und alles Böse von der intoleranten, reaktionären, homo- oder transfeindlichen Aussenwelt kommt (konkret von der katholischen Kirche, den Republikanern, Ronald Reagan usw.). Das ist herzig, aber auch weltfremd, undifferenziert – und es schadet der Psychodynamik des Romans.
«Es gibt mehr als nur eine Art, Menschen zu lieben» – dieser mehrfach platzierte Kalenderspruch wirkt nicht, wie er gemeint ist, tolerant und weise, sondern nur, wie Kalendersprüche eben sind: banal. Ein anderer: «Wir können nur die sein, die wir sind, und tun, was wir nun mal tun.» Und so sind die Personen, wie sie sind, und bleiben so; ohne innere Konflikte, ohne Reifungsprozesse gewinnen sie auch kein literarisches Leben. Was bedeutet es etwa für Elliott, der immer eine Frau sein wollte, dies nun tatsächlich zu sein? Er bleibt der kleine, hilfsbereite, freundliche, von allen gemochte Mr. Barlow – nur dass er jetzt nicht «der Schneeläufer», sondern «die Schneeläuferin» genannt wird.
Literatur der Aussenseite
Zu dieser Literatur der Aussenseite passt, dass viele, viele Seiten in Drehbuchform gehalten sind, denn Adam ist auch ein unglücklicher Filmvorlagenverfasser. Andere Filme, existierende und erfundene, erzählt er nach. Auch Bücher, vor allem Melvilles «Moby-Dick» und Dickens’ «Grosse Erwartungen», begleiten und begeistern ihn. Inspiriert haben sie aber nicht. Denn Adams monströs lange Lebenserzählung wirkt wie ein unfertiges Manuskript, das der Autor, ohne noch einmal draufgeschaut zu haben, abgegeben und der Verlag ohne Lektorat durchgewinkt hat (der amerikanische; Diogenes kann nichts dafür). Es wimmelt von Wiederholungen, von unnötigen Abschweifungen, von überflüssigen Szenen mit konturlosen Nebenfiguren.
Man spürt Irvings Bemühen, seinen einzigartigen tragikomischen O-Ton, den er etwa in «Garp und wie er die Welt sah» oder in «Gottes Werk und Teufels Beitrag» gefunden hatte und für den ihn seine Fans lieben, wieder zu treffen. Hier trifft er ihn nicht. «Wenn man es nicht bearbeitet, ist das echte Leben ein einziges Chaos», heisst es einmal. Für ein Roman-Leben gilt das umso mehr.
John Irving: Der letzte Sessellift. Roman. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg. Diogenes, Zürich 2023. 1080 S., ca. 47 Fr.
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