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Interview über Cancel-Culture & Co
«Die Geistes­wissenschaften abzubauen, wäre extrem gefährlich»

Im Dokfilm «Orlando, meine politische Biografie» von 2023 schreibt Paul B. Preciado Virginia Woolfs Kult-Roman fort: Der Kanon lebt und belebt, sagt die emeritierte Anglistik-Professorin Elisabeth Bronfen.

Frau Bronfen, die Einbildungskraft in Theater, Film und Literatur scheint heute weniger gefragt. Stattdessen fordert man Authentizität: Nur People of Color dürfen über PoC schreiben; nur Schwule über Schwule. Auch Sie fokussieren in Ihrem nun erschienenen ersten Roman «Händler der Geheimnisse» auf Ihre eigene Geschichte.

Das ist ein schwieriges Thema. Vielleicht leben wir im Moment wirklich in einer Zeit, die sehr viel Authentizität fordert. Es gab andere Zeiten, in denen man Spiel, Verstellung und freie Imagination vorzog. Es sagt sicher etwas über uns, dass Autofiktionen derzeit einen so hohen Stellenwert haben.

Was denn?

Ich spekuliere, aber womöglich hat dieses Bedürfnis mit der starken Selbstkuratierung und Selbstinszenierung von heute zu tun, auf Tiktok, Instagram, in allen sozialen Medien. Die ganzen Selfie-Geschichten sind die künstliche Produktion eines Ichs, das authentisch wirken soll. Da fehlt die Freude am Spiel, an der Maskerade, der Möglichkeit, in andere Identitäten hineinzuschlüpfen. Der Wunsch nach Authentizität könnte mit dem Gefühl zu tun haben, dass zurzeit gar nichts authentisch ist ausser des eigenen Schmerzes, des eigenen Traumas. In den 90er-Jahren dagegen wurde besonders die Maskerade kultiviert. Oder früher, etwa bei Oscar Wilde. Oder eben bei Shakespeare, der die Kraft des Spiels oft explizit in seinen Stück-Epilogen aufgreift.

Herrscht gerade eine Form der woken Zensur? Cancel-Culture?

So würde ich es nicht formulieren, sondern fragen: Welches Bedürfnis kommt hier zum Ausdruck? Könnte man es auch anders befriedigen?

«Das Spielerische, das In-vielen-Stimmen-Sprechen könnte man jetzt aufs Neue in den Diskurs einbringen!»

Elisabeth Bronfen

Könnte man?

Ich weiss es nicht. Aber ich beobachte, dass Virginia Woolf gerade eine Renaissance erfährt. Ihr Roman «Orlando» von 1928 wird gegenwärtig intensiv rezipiert: ein sehr literarischer Text, der mit der Fluidität der Identitäten spielt, Verkleidung und Wandlung sind essenziell. Daher glaube ich: Das Spielerische, das In-vielen-Stimmen-Sprechen könnte man jetzt aufs Neue in den Diskurs einbringen!

Wie spielerisch ist Ihr eigener Roman? Hauptfigur ist die 35-jährige Eva, Shakespeare-Expertin, geboren 1958 in München als Tochter eines Amerikaners mit jüdisch-litauischen Wurzeln und einer Deutschen – genau wie Sie.

Eva ist in vieler Hinsicht ein Alter Ego, mein jüngeres Ich. Doch wie viel Bronfen wirklich dahintersteckt, ist schwierig zu sagen. Der Stoff ging durch meine Erinnerungsmühlen, das Buch ist kein objektiver Rapport. Mich interessiert der spezifische Fall meines Vaters, aber auch generell das Kriegsende in Bayern 1945 und die Situation Mitte der Fünfzigerjahre: Es war eine Zeit, in der vieles verwischt und vertuscht wurde. Eine Grauzone, eine Phase der Profiteure und leisen Seitenwechsel. Da lassen sich Parallelen ziehen zu anderen Umbruchszeiten zwischen Krieg und Frieden.

Wieso die Romanform?

Durch sie konnte ich persönlichen Interessen folgen. Gleichzeitig erhält der Leser verschiedene Identifikationsmöglichkeiten. Nicht zuletzt eben: Fiktion bietet Freiheit. Lesende sollen nicht fragen: «Ist das alles wirklich genauso passiert?», sondern: «Was erzählt mir diese Geschichte?» Bei der zweiten Frau meines Vaters – die es gab – lasse ich beispielsweise offen, ob sie tatsächlich für den Tod meines Vaters verantwortlich ist; mich interessiert das Nachhallen des nationalsozialistischen Gedankens, dass ein versehrtes Leben nicht lebenswert sei. Heute, nach rund 80 Jahren, finden wir in etlichen europäischen Gesellschaften einen neuen Nachhall faschistischen Gedankenguts.

Haben Sie damit gerechnet?

Nein, im Jahr 2000 waren wir uns sicher, dass wir in eine säkulare, demokratische und globale Welt übergegangen sind. Doch vor allem im letzten Jahrzehnt hat sich da etwas gedreht – was ich nie erwartet hätte! Vielleicht wäre mein Roman vor 15 Jahren nicht so nötig gewesen, aber jetzt trifft er den Zeitgeist. Er thematisiert, dass wir uns nicht erlauben können, die Vergangenheit zu vergessen. Denn vergessen oder verdrängen wir sie, kehrt sie mit Wucht zurück. Genau das sehen wir im Moment.

Muss Literatur Gesellschaftsanalysen und Botschaften bieten?

Nein, Literatur darf und soll, was sie will. Es gibt formale Literatur voller Sprachspiele, die hat auch ihre Berechtigung. Aber ich denke schon, dass Intellektuelle und Künstler einen anderen Blick auf die Welt haben als Politikerinnen oder Wirtschaftsführer, und sie sollten ihrer Wahrnehmung auch Ausdruck verleihen. Meine Rolle als Intellektuelle ist es, in die Zeit, in der ich bin, einzugreifen. Durchaus auch schräg, etwa mit einem autobiografisch grundierten Roman oder mit meinem derzeit reifenden Buch zu Shakespeare.

Dafür kehren Sie zum Kanon, zu den Klassikern, den Must-Reads der Literaturgeschichte zurück?

Man kann so irrsinnig viel über unsere Zeit erfahren, wenn man sich mit alten Texten neu auseinandersetzt. Das ist das Besondere an Autoren wie Shakespeare oder Goethe: Ihre Texte sind wie Objekte, die unter anderem Licht jeweils eine andere Farbe annehmen. Sie neu zu lesen, ist für mich auch eine Art Intervention.

«Wir benötigen die alten Texte, um die heutigen zu verstehen – und um uns an ihnen abzuarbeiten.»

Der Kanon gilt aber oft als Setzung alter weisser Männer.

Vielen ist nicht klar, was ein Kanon eigentlich ist. Der Kanon ist zuallererst einfach eine Menge an Wissen, die eine Kultur oder viele Kulturen miteinander aufgebaut haben. Sagt man «wir wollen jetzt keinen Kanon mehr», heisst das, Tausende Jahre des Denkens und Gestaltens wegzuwerfen. Das scheint mir schlicht unsinnig. Aber der Kanon war für mich immer auch etwas Mobiles.

Etwas Mobiles?

Ich habe mich seit den 1980ern sehr eingesetzt, den Kanon – der ohnehin nichts Fixes ist – zu erweitern. Aber mir ist ebenfalls wichtig, dass man erkennt: Wir benötigen die alten Texte, um die heutigen zu verstehen – und um uns an ihnen abzuarbeiten. Das gilt auch für Texte von Frauen. Da tritt man etwa in Dialog mit George Eliot und versucht herauszufinden, wieso sie Frauenfiguren bestraft, wenn sie moralischen Ansprüchen nicht entsprechen. Was sind dagegen unsere moralischen Ansprüche heute? Kurz: Wir brauchen diese Texte, aus denen wir kommen. Sie sind unsere Erbschaft. Wir können unsere Positionen daran schärfen.

Ist der Kanon für Sie ein Katalysator?

Erbe und Katalysator. Oft denke ich an jenen Satz des deutschen Kulturwissenschaftlers Aby Warburg: «Jede Zeit hat die Renaissance, die sie verdient.» Man könnte auch sagen: «Jede Epoche hat den Shakespeare, den sie verdient.» In der Auseinandersetzung mit dem furchtbaren Stück «Der Widerspenstigen Zähmung» etwa. Man frage sich: Warum geht das für mich nicht mehr? Wie würde ich das heute aufführen? Und was würde ich damit sagen wollen? So kann man etwas über Gegenwart erfahren.

Viele junge Leserinnen sind besessen von Jane Austens «Pride & Prejudice» von 1813, hier in der berühmten Verfilmung von 2005 mit Keira Knightley.

Im Roman stellen Sie solche Querverweise her – auf Shakespeare, auf die Film- und Kunstgeschichte.

Für meine wissenschaftliche Arbeit verwende ich da gern den Begriff Kuratieren: Die Reihenfolge der gewählten Texte ist Teil des Arguments. Wie bei einer Ausstellung ergeben sich Vergleiche und Abgrenzungen durch die Zusammenstellung.

Sollte man auf diese Weise Literatur studieren? Und: Wieso sollte man das überhaupt noch tun?

Literatur ist eine Lebensaufgabe. Als Studentin war ich sehr viel voreingenommener als heute: Bestimmte Dinge wie Verena Stefans «Häutungen» waren ein Must, anderes ging gar nicht. Mein Plädoyer wäre, dass man als Literaturmensch die neue Buch-Produktion verfolgt und die alten Texte – und andere Kunstformen – nicht aus dem Blick verliert. Die Geisteswissenschaften abzubauen, wäre extrem gefährlich, denn sie haben mit emotionaler Bildung zu tun. Daraus entwickelt man die Fähigkeit, Linien zur Vergangenheit zu ziehen, die Welt zu lesen und zu erzählen. Und alle Menschen brauchen Narrative und Einordnungen. Gerade das Literaturstudium lehrt, wie man sich in diverse Positionen hineindenkt und aus verschiedensten Informationen eine sinnstiftende Erzählung bildet.

Kommt das bei den jungen Studierenden an?

Auf jeden Fall. Klar, teils wollen sie lieber brandneue Fernsehserien anschauen. Und wenn Literatur, dann Literatur, die mit ihnen persönlich etwas zu tun hat. In dem Alter liest man eben Bücher, um herauszufinden, wie man werden will – oder auf keinen Fall werden will. Daher kommt auch diese ubiquitäre Liebe für Jane Austen. In meiner Lehre habe ich darum immer gemischt, bin von zeitgenössischen Texten ausgegangen, habe dann aber das eine oder andere aus dem 18. oder 19. Jahrhundert hineingenommen: Das ist für die Studierenden oft eine Entdeckung. In der Tat hat man häufig ein besonders starkes Entdeckungserlebnis mit einer Literatur, zu der die Distanz vorderhand gross erscheint: Genau das fördert die eingangs angesprochene Einbildungskraft.

Elisabeth Bronfen: Händler der Geheimnisse. Limmatverlag, Zürich 2023. 320 S., ca. 34 Fr.