Ein Zeichen der HoffnungMein Weihnachtswunder
Als ich, eine alleinerziehende ukrainische Mutter, es nicht mehr aushielt, habe ich auf einmal nichts mehr gespürt. Ich war innerlich tot – bis ich auf einem Weihnachtsmarkt diese rettende Erscheinung sah.
Das Jahr endet nicht so, wie ich geplant habe. Nicht so, wie ich und viele meiner ukrainischen Landsleute es sich erträumt haben. Es endet schrecklich. Der Krieg in der Heimat dauert an. Das Sterben und Morden geht weiter. Dazu kommt hier, in dem Land, das mich und meine Tochter mit offenen Armen aufnahm und uns Schutz bietet, die Inflation, die unaufhörlich steigenden Preise für Energie, Lebensmittel, Wohnung. Alle sind davon betroffen, aber ich frage mich immer häufiger und immer ernsthafter, ob ich so weiterleben kann. Wie lange ich das noch aushalten, wie lange ich noch funktionieren kann, ohne mich von den Nachrichten der Bomben und Toten niederschmettern zu lassen, ohne in Panik zu geraten, wenn man den versiegelten Umschlag von einem Energieunternehmen sieht.
Eine Möglichkeit ist, aufhören zu fühlen. Keinen Schmerz, keine Angst, keine Wut mehr zu empfinden. Gefühle – das ist etwas, das wir kontrollieren können, warum es also nicht versuchen?
Und es funktioniert sogar – für eine Weile zumindest. Der Social-Media-Feed läuft über vor Schmerz und Leid, aber ich sehe ihn mir nicht mehr an. Alles, was ich will, ist Einkaufslisten im Kopf behalten, den richtigen Bus nehmen, den Herd rechtzeitig ausschalten und mich mehr oder weniger auf den Deutschkurs konzentrieren. Meine Freunde posten Fotos, dass einem die Tränen kommen, ich aber lösche alle Apps bis auf die Sprach-App, widme mich ganz der Poesie der deutschen Grammatikübung. «Hundert Hasen haben Hunger. Hundert Hasen haben Durst», wiederhole ich dumpf und gehorsam, während ich im Berufsverkehr festsitze, wenn noch elf Minuten bleiben, um das Kind von der Schule abzuholen.
Doch das Kind ist glücklich, die Lehrerin hat ihr eine Zwei in Sprache gegeben. Sie strahlt vor Glück, ich sage ihr aufmunternde Worte, denn ich bin eine gute Mutter. Ich umarme sie, filme mit dem Smartphone, wie sie umherspringt. Und fühle nichts.
Ich habe es geschafft. Den Schmerz fühle ich nicht mehr, keine Trauer, keine Angst. Auch keine Überraschung, Freude, Liebe. Ich umarme mein Kind mit routinierten, automatischen Bewegungen, drücke es an mich, sage ihm liebevolle Worte, bei denen es leer in mir ist. Bei den raren Treffen mit Freunden umarme ich sie, sage: «Ich habe euch auch vermisst.» Irgendwann hören auch diese Treffen auf. Ich fühle kein Bedürfnis danach, denn ich fühle überhaupt nichts. Ich spüre auch die Kälte nicht, was praktisch ist, so spare ich mir das Geld für Winterstiefel. Ich habe keine Wünsche, keine Bedürfnisse mehr, keinen Hunger, keinen Durst, keinen Geschmack.
Dabei bin ich sozial integriert und völlig akzeptiert – bin höflich zu jedem, streite mich nicht, komme und gehe meist rechtzeitig, lächle und wünsche einen guten Tag. Aber in mir ist nichts, absolut nichts. Und eines Morgens wache ich auf mit dem Gedanken, dass ich mein Kind zur Schule bringen muss, aber ich weiss nicht mehr, warum. Wozu ich überhaupt aufstehen soll.
Wäre ich noch fähig, Angst zu empfinden, würde ich über mich erschrecken. Immerhin, ich stehe auf, mache Frühstück, sage dem Kind, dass ich es liebe, packe seine Sachen ein und bringe es zur Schule. Warum? Weil dieses kleine Wesen von mir abhängt. Ich funktioniere noch, weil ich muss, aber irgendwo auf halbem Weg zur Schule wird mir klar, dass ich nicht mehr kann, keine Energie mehr habe. Keinen Sinn. Und das ist kein Gedanke, kein Gefühl. Das ist Fakt.
Aus den Tiefen der Erinnerung der Person, die ich einmal war, taucht die Idee auf, sich an einen Fachmann zu wenden. Um repariert zu werden. Aber der Arzt findet keinen Grund für eine Behandlung, empfiehlt einen Psychologen. Der Psychologe sieht mir in die Augen und fragt: Was fühlen Sie?
Der Psychologe empfiehlt mir: Ruhe, Spaziergänge, Treffen mit Freunden, regelmässiges Essen, Sport, Schlafmittel und Schlaf. Ich solle mir bewusst machen, was ich mir wünsche. Der Psychologe sagt, das werde helfen. Und ich versuche es, ich bin ein braves Mädchen und zwinge mich zum Essen nach Plan, gehe spazieren, nehme dieses vermaledeite Schlafmittel, von dem ich am nächsten Morgen noch benommener bin als sonst. Immerhin erinnere ich mich nicht daran, ob ich nachts aufgewacht bin. Ich frage mich auch: «Oksana, was wünschst du dir? Was ist deine Hoffnung? Deine Sehnsucht?» Aber immer wieder kommt nur dieser eine, mein grösster Wunsch: nichts zu fühlen.
Die Stadt hüllt sich in festliche Farben, überall bunte Lichter, Düfte und Melodien. Auf jedem Platz märchenhafte Buden von Weihnachtsmärkten, die flackernden Gesichter glücklicher Menschen vor offenen Feuern, in den Buden Spielzeuge, warme Socken und heisser Punsch. Man könnte den Eindruck bekommen, als ob das Leben ein Märchen wäre.
Ich bringe mein Kind dorthin, weil es ein Bedürfnis nach Festlichkeit hat, lasse mich von ihm durch die Menge führen – und plötzlich bin ich wie gefesselt. Ich stehe in einer Menschentraube, das Kind zieht am Ärmel, aber ich schaue und schaue und kann meine Augen nicht von einem kleinen Vogel abwenden.
Dieser Vogel hat einen absolut unpraktischen Schnabel und matt glänzende gläserne Federn, er dreht sich auf einem Zweig, der mit weissen Tüllblüten verziert ist. Es ist schwer, sich etwas Sinnloseres und Unnützeres vorzustellen, und er kostet so viel wie mein wöchentliches Lebensmittelbudget. Aber ich kann den Blick nicht von ihm abwenden. Er schaut mich mit seinen tropfenförmigen gläsernen Augen an und scheint etwas in mir zu sehen, das ich schon lange nicht mehr gesehen, bemerkt oder gefühlt habe. Plötzlich begreife ich, wie absurd es auch klingen mag, dass ich diesen Vogel will, dass ich ihn brauche. Ich will, dass er mir gehört.
Ich habe ein körperliches Bedürfnis nach diesem Tier, das sich sinnlos an einem langen hellblauen Band dreht. Ich betrachte es und stelle mir vor, wie es zwischen den Vorhängen meines Fensters tanzt. Ich sehe, wie ich nach Hause komme und der Vogel dort auf mich wartet – wie ein stilles Versprechen, dass alles gut wird. Ich stehe in der Menschenmenge, um mich herum sind Leute, die etwas kaufen, lachen, singen, laut ins Telefon sprechen. Aber alles fühlt sich an wie leblos, wie eine Szene aus einem Film, wie Kulissen, die verschwinden, sobald der Abspann läuft oder ich mich abwende.
Und deshalb drehe ich mich nicht weg. Denn ich will nicht, dass dieser Vogel verschwindet. Auf einmal sind da Tropfen auf meinen Wangen. Das ist weder Schnee noch Regen. Diese Tropfen sind so heiss und brennend, als wären sie Säure, nicht menschliche Tränen. Ich bemerke, dass ich mitten in der festlichen Menschenmenge stehe und weine. Eine erwachsene, funktionierende Frau. Ich schaue auf das Schaufenster mit der kitschigen Weihnachtsdekoration und weine.
Meine Tochter nimmt meine Hand und sagt: «Mama, schau, so ein niedliches Tigerchen. Ich möchte diesen Tiger haben. Er ist so rötlich und lächelt. Er hat eine Tasse, siehst du, mit Kakao. Ist das Kakao, Mama? Oh, Mama, warum weinst du?»
Ich schaue in dieses kleine Gesicht und merke, wie klein sie ist, wie zart, wie schön sie ist. Ich wische die Tränen weg, umarme sie, drücke sie an mein Herz – durch all diese Schichten von Pullovern, Schals und Winterjacken. Und mit meinem ganzen Herzen fühle ich eine riesige Liebe, eine unendlich grosse Liebe zu diesem kleinen Kind.
Und plötzlich nehme ich all die Stimmen um mich herum, all die festlichen Lieder und das fröhliche Lachen viel näher wahr, sie gehen durch mich hindurch und weiter, in Wellen. Sie sind lebendig, alles um mich herum lebt. Und, es fühlt sich sehr seltsam an, aber auch ich ... bin lebendig.
Und ich erkenne plötzlich, dass der einzige Weg, weiterzuleben, darin besteht, zu leben.
Oksana Maslova ist eine ukrainische Schriftstellerin. Sie lebt derzeit in Wien.
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