Krise in GötzisZehnkämpfer Ehammer gerät in eine Negativspirale und gibt auf
Der Schweizer Simon Ehammer startet beim Zehnkampf in Österreich brillant, bis er vor dem abschliessenden 1500-m-Rennen aussteigt – und eine völlig neue Seite von sich zeigt.
Simon Ehammer sagt: «Ich bin keiner, der einfach so aufgibt.» Der 24-Jährige steht auf dem Rasen des Mösle-Stadions in Götzis, er hat Tränen in den Augen. Soeben haben die Zehnkämpfer ihre letzte Disziplin bestritten, den 1500-m-Lauf. Ohne den Schweizer.
Kurz vor dem Start hat der Speaker verkündet, dass das Rennen ohne den Hallenweltmeister im Siebenkampf stattfinden wird. Ehammer ist mit seiner Doppelbürgerschaft im Vorarlbergischen fast «ein eigener». Ein Raunen geht durch das Publikum. Was ist passiert? Ehammer belegt zu diesem Zeitpunkt Rang 4 in einem dichten Spitzenfeld.
Der Appenzeller hat in Götzis seinen ersten Zehnkampf seit vergangenem Juni in Basel bestritten. Wegen seiner Schulterprobleme startete er an der letztjährigen WM in Budapest nur im Weitsprung. Nach seinem Sieg beim Finale der Diamond League liess er sich dann an der Schulter operieren, was eine zweimonatige Reha nach sich zog. Acht Wochen, in denen er kaum belasten durfte, von Training konnte in dieser Phase keine Rede sein. Deshalb hatte sein Haupttrainer, René Wyler, schon im Vorfeld von Götzis zu bedenken gegeben, dass Ehammer zwar gut in Form sei, doch dass er zumindest im Speerwurf ein erhebliches Trainingsmanko habe.
Der Stolz und das Ego
Dennoch war Ehammer mit grossen Ambitionen angereist. Und hatte an der Medienkonferenz am Dienstag gesagt, es gehe auch «um seinen Stolz und sein Ego», dass er die Olympiaqualifikation im Zehnkampf direkt, das heisst über die geforderte Punktzahl, erreiche. Und nicht über das World Ranking, das auch die Nächstbesten zulässt.
Jetzt, da unten auf dem Platz, suchen seine Trainer nach Worten, und Ehammer wird von ein paar Dutzend Kids umringt und angehimmelt. Keines der Kinder – niemand – weiss, wie es im Moment im Athleten aussieht. René Wyler sagt: «Er war körperlich und emotional nicht mehr in der Lage, die 1500 m zu laufen. Er hatte schon beim Stabspringen das Gefühl von erhöhter Temperatur, wir wissen diesbezüglich noch nicht mehr.»
Ehammer war am Samstag hervorragend in den Wettkampf gestartet, mit 10,34 Sekunden über 100 m sprintete er gleich zu einer Bestleistung. Und mit den 8,25 m im Weitsprung war er der Einzige gewesen, der die 8-m-Marke übertroffen hatte. Er schaffte sich mit diesen zwei absoluten Spitzenleistungen eine verheissungsvolle Basis für den weiteren Wettkampf. Ehammer beendete den Tag als Führender, nachdem ihm solide Werte mit der Kugel (14,08 m), im Hochsprung (2,03 m) und über 400 m (48,22 Sekunden) gelungen waren.
Der Krampf und das Unheil
Dass ihn der zweite Tag mit seinen schwächeren Disziplinen Diskus und Speer mental ungleich mehr fordert, ist nicht neu. Und Ehammer arbeitet deshalb auch mit einem Hypnotiseur zusammen. Dass dieser zweite Tag jedoch mit seinem Rückzug enden könnte, hätte sich nach einem fesselnden Hürden-Duell mit Olympiasieger Damian Warner am Morgen wohl kaum jemand vorstellen können. Ehammer liess sich in 13,55 Sekunden stoppen und führte auch nach sechs Disziplinen.
Doch dann begann erst sein eigentlicher Krampf, und das Unheil nahm seinen Lauf. Freiwillig liess er sich in die schwächere Gruppe im Diskus einteilen – war das schon ein Zeichen der mentalen Müdigkeit? Er schmetterte die Scheibe auf 37,35 m, natürlich war das eine unbefriedigende Weite. «Wer gesehen hat, dass ich beim Einwerfen die 40-Meter-Marke übertroffen habe, weiss, dass ich es eigentlich draufhabe», sagte er. Es folgte danach das Stabspringen, von dem er sich viel mehr als die 5,00 m erhofft hatte. Dreimal war er gesprungen in dieser Saison, jedes Mal 5,20 m und mehr.
Sein schneller Teamkollege
«Da fühlten sich meine Beine schon schwer an. Und ich geriet in eine Spirale mentaler Enttäuschung», umschreibt Ehammer den Moment, in dem er weiss, dass nun noch der Speerwurf ansteht. «So wie mir die 8,45 Meter im Weitsprung vor zwei Jahren hier so viel Energie gaben, hat mir der Speer alles genommen.» Er steht da, schaut in die Journalistenrunde und macht den Eindruck, dass er nicht verstehen kann, was eben passiert ist.
Im Hintergrund beginnt die Siegerehrung, einen Riesenapplaus holt sich sein 19-jähriger Clubkollege Andrin Huber ab, der das 1500-m-Rennen in 4:15:40 überlegen gewinnt und sogar in die Top Ten in Götzis vorstösst. Warner siegt zum siebten Mal, diesmal mit 8678 Punkten. Huber wird Vierzehnter (7873), drei Punkte vor dem dritten Schweizer Finley Gaio.
Aber das ist gerade alles ziemlich weit weg. Ehammer erzählt vom Entscheid, den René Wyler und er getroffen haben, das letzte Rennen nicht zu bestreiten. «Körperlich wäre das vielleicht gegangen, aber in dieser mentalen Verfassung … immer wieder sind mir einfach die Tränen herunterlaufen», sagt er und findet, das Ganze dürfe jetzt wehtun. «Ein, zwei Wochen werde ich brauchen, um das zu verarbeiten.»
Der Zehnkampf dürfte für ihn trotz dieser Baisse ein Thema bleiben für die Spiele Anfang August in Paris. An der EM in Rom in drei Wochen wird er ohnehin nur im Weitsprung antreten.
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