Proteste im IranDutzende Tote – doch die Menschen weichen nicht
Es geht im Iran längst nicht mehr nur um Frauenrechte. Die Proteste haben sich auf das ganze Land ausgeweitet und gehen durch alle sozialen Schichten. Entsprechend brutal reagiert das Regime.
Einen Monat nach Beginn der landesweiten Proteste versuchen iranische Einsatzkräfte die Demonstranten mit dem Einsatz von militärischer Gewalt von den Strassen zu vertreiben. Die Menschen protestieren im ganzen Land gegen das Mullah-Regime und den Kopftuchzwang. Längst geht es nicht nur um Frauenrechte, sondern um das Ende der 43-jährigen Theokratie.
Während die Proteste der letzten Jahre auf die Hauptstadt oder einzelne soziale Gruppen begrenzt waren, protestieren nun die Menschen im ganzen Land. Etwa in der Stadt Zahedan: Dort schossen Polizisten in der letzten Woche offenbar wahllos mit scharfer Munition in die Menge. Aktivisten aus der rund 1600 Kilometer von Teheran entfernten Stadt berichten am Telefon, dass eine unbekannte Zahl von Protestierenden tödlich getroffen oder verletzt wurde, aber die Proteste andauern. Die Menschenrechtsorganisation Iran Human Rights (IHR) veröffentlichte ein aus der Menge aufgenommenes Handyvideo, in dem minutenlanges Gewehrfeuer aus automatischen Waffen zu hören ist. Den Menschenrechtlern zufolge gab es bei dem Angriff auf die unbewaffneten Demonstranten 93 namentlich bekannte Todesopfer.
Nach dem Freitagsgebet stürmten sie die Polizeistation
Die staatliche iranische Nachrichtenagentur Irna verbreitete eine gänzlich andere Version der Geschehnisse in der Hauptstadt der Provinz Sistan-Baluchestan: Maskierte Randalierer hätten Steine auf Autos und Sicherheitskräfte geworfen, die Polizei habe nach einem Spezialeinsatz die Lage wieder unter Kontrolle gebracht.
Schon bei dem Sturm einer Polizeiwache am 30. September waren in Zahedan 35 Zivilisten und sechs Polizisten gestorben. Auslöser des Aufstands war die mutmassliche Vergewaltigung eines zuvor festgenommenen Mädchens durch einen Polizisten. Nach dem Freitagsgebet stürmten 150 Bürger die Polizeistation, in die Polizisten alle Frauen bringen, die in der Öffentlichkeit ohne Kopftuch oder mit regimekritischen Parolen auffallen.
Die Empörungswelle gegen das Vorgehen der Einsatzkräfte geht in Zahedan durch alle sozialen Schichten. Die offene Kritik von schiitischen und sunnitischen Geistlichen an der seit Wochen andauernden Verhaftungswelle in Zahedan zwang iranische Behörden erstmals dazu, das Fehlverhalten ihrer Sicherheitskräfte einzuräumen. Der Polizeichef von Zahedan musste seinen Posten räumen. Der sogenannte Sicherheitsrat der Provinz, eine staatliche Kontrollbehörde, begründete die Entlassung weiterer Polizeioffiziere mit dem Fehlverhalten der Beamten bei dem Sturm auf die Wache.
Doch mit der Entlassung von Verantwortlichen auf lokaler Ebene geben sich die Iraner längst nicht mehr zufrieden. Immer mehr Bürger spüren, dass die Tage des Regimes gezählt sein könnten. Doch dieses will mit allen Mitteln an der Macht bleiben. Auch deshalb fürchten die Behörden den Verlust der Kontrolle über ganze Städte wie Zahedan. Aus der 250’000-Einwohner-Stadt Mahabad haben sich die Polizeieinheiten angeblich bereits zurückgezogen.
Videos zeigen die kommentarlose Übergabe der Leichen von zuvor festgenommenen Studenten.
In den kurdischen Regionen des Iran wurde aus «Sicherheitsgründen» das Internet auf unbestimmte Zeit heruntergefahren. Dennoch gelangen täglich neue Videos mit Gräueltaten auf die Mobiltelefone der Iraner. Darauf zu sehen ist die kommentarlose Übergabe der Leichen von zuvor festgenommenen Studenten. Andere Aufnahmen zeigen, wie Polizisten mitten im Teheraner Berufsverkehr einen angeschossenen Passanten in einen schwarzen Sack legen und ihn in ein Auto werfen.
Die Welle der Empörung über die Brutalität der Einsatzkräfte hat nun auch die religiöse Hochburg Mashad erreicht, wo Studenten der Sajjad-Universität die riesigen Poster von Revolutionsführer Ayatollah Khomeini und Staatsoberhaupt Ali Khamenei herunterrissen. «Tod dem Diktator»-Rufe schallen auch durch den Basar von Teheran. Die dortigen Händler gelten als einflussreich in Bezug auf die politische Stimmung im Land. Doch die Machthaber in Teheran haben in vier Jahrzehnten ein ausgeklügeltes System des Machterhalts entwickelt. Ob es standhält, wird sich zeigen.
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