Krimi der WocheDie lahmen Gäule des Geheimdiensts
Witzig und actionreich führt der englische Autor Mick Herron im Thriller «Real Tigers» vor, wie Agenten und Politiker funktionieren.
Der erste Satz
Wie die meisten Varianten des Verderbens begann auch diese mit Männern in Anzügen.
Das Buch
Im sogenannten «Slough House», was etwa so viel wie Drecksloch bedeutet, arbeiten in Ungnade gefallene Mitarbeiter des britischen Inlandgeheimdienstes MI5, die man nicht einfach entlassen wollte oder konnte. Um diese «Slow Horses», wie sie von den «richtigen» Kollegen spöttisch genannt werden, lahme Gäule, dreht sich die erfolgreiche Romanreihe von Mick Herron, aus der nun auch eine Fernsehserie entstehen soll.
Auf Deutsch ist eben der dritte Band, «Real Tigers», erschienen. Seine Geschichte ist exemplarisch für die ganze Reihe, die mit satirischem Unterton von einem Geheimdienst handelt, dem die ursprünglichen Feinde nach dem Ende des Kalten Krieges ausgegangen sind und der sich nun vor allem mit sich selbst beschäftigt. Hätte man die Chefin des Dienstes «gebeten, die grössten Bedrohungen für die Sicherheit der Nation aufzulisten, hätte sie zuerst Minister und Kollegen aufgezählt», heisst es einmal.
«Real Tigers» beginnt mit der Entführung der Assistentin des Chefs der Slow Horses. Diese Tat erweist sich bald als Teil einer internen Intrige. Da viele verschiedene Akteure aus den Diensten und aus der Politik darin verstrickt sind, von denen jede und jeder eigene Ziele verfolgt, wird die ganze Geschichte immer chaotischer, und am Ende gibt es viel aufzuräumen.
Das ist kurzweilig, actionreich, leidlich spannend und dank Herrons trockenem Humor vor allem auch komisch und unterhaltsam. Wie er, auch schon in den vorherigen Bänden, die Geheimdienstler darstellt, denen es wichtiger ist, gut dazustehen und Karriere zu machen, als zur Sicherheit der Nation beizutragen, ist so niederträchtig wie grossartig.
In ihrem Drang zur Selbstdarstellung stehen den Agenten die Politiker natürlich in nichts nach. Im neuen Band kommt diese Rolle dem neuen Innenminister zu, der unverkennbar nach dem heutigen Premier gezeichnet ist: «Blauer Anzug, gelbe Krawatte, kunstvoll zerzaustes, aufgeplustertes Haar und ein plumpes Grinsen, hinter dem sich – man musste ein Idiot oder ein Wähler sein, um es nicht zu bemerken – so viel Egoismus verbarg, dass es einen Hai abgeschreckt hätte.»
Und er ist einer, «der eine Frau ebenso wenig ansehen konnte, ohne ihre Bettfähigkeit zu beurteilen, wie er an einem Mikrofon vorbeigehen konnte, ohne kurz reinzusprechen». Mithilfe eines sogenannten «Tiger Team» wollte der Minister den in seiner Verantwortung stehenden Geheimdienst blossstellen, um die Chefin dann in der Hand zu haben. Aber da hat er die Rechnung ohne die leitenden Agenten gemacht, die genau die umgekehrte Zielsetzung verfolgten. Und seinen heimtückischen Plan nicht weniger hinterlistig dafür benutzten.
Die Wertung
Originalität: ★★★★★
Spannung: ★★★☆☆
Realismus: ★★★☆☆
Humor: ★★★★★
Gesamteindruck: ★★★★☆
Der Autor
Mick Herron, geboren 1963 in Newcastle-upon-Tyne, studierte englische Literatur in Oxford. Mit seinem ersten Roman startete er 2003 eine Reihe um die Privatdetektivin Zoë Boehm in Oxford, von der bis 2009 vier Bände erschienen sind.
2010 lancierte er mit «Slow Horses» die Slough-House- bzw. Jackson-Lamb-Serie, in der für 2021 bereits der achte Band angekündigt ist. Die Reihe wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Eine TV-Serie ist in Vorbereitung. Nach «Slow Horses» (2010; Deutsch 2018) und «Dead Lions» (2013; Deutsch 2019) ist «Real Tigers» (Original 2016) nun sein dritter Roman, der auf Deutsch erscheint. Herron veröffentlichte auch drei Romane ausserhalb seiner Serien. Er schreibt zudem regelmässig für Magazine. Er lebt in Oxford und arbeitet in London.
Mick Herron: «Real Tigers» (Original: «Real Tigers», Soho Crime, London 2016). Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer. Diogenes, Zürich 2020. 474 S., ca. 24 Fr.
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