Lewis Hamilton vs. Michael SchumacherDie ewigen Rekorde der Formel 1 wackeln
Beim GP von Russland kann Lewis Hamilton einen für nicht schlagbar gehaltenen Bestwert Schumachers knacken. Der Brite hat aber auch noch aufzuholen.
Die Zahlen waren für die Ewigkeit gedacht. Lewis Hamilton zerrt sie gerade in die Gegenwart. Der Brite spaziert weiter mit verblüffender Leichtigkeit von Sieg zu Sieg, jagt Michael Schumacher Rekord um Rekord ab. Als gäbe es keinen Valtteri Bottas neben ihm bei Mercedes, der nun schon im vierten Jahr mit körperlicher Schwerstarbeit und Akribie versucht, den Popstar der Formel 1 vom Thron zu stossen. Als gäbe es keinen hochtalentierten Max Verstappen, der im Red Bull noch zum jüngsten Weltmeister hätte werden wollen. Als gäbe es keine Tücken in diesem fragilen Sport mit Mensch und Maschine, bei dem kleinste Details entscheiden.
Der 35-Jährige spult auch in diesem Sonderjahr 2020 auf wunderbar unaufgeregte Art sein Programm ab – und lässt die Konkurrenz als staunende Zaungäste zurück. Wenn Hamilton am Sonntag in Russland auf das Erlöschen der fünf roten Doppellampen wartet, wackelt der nächste Bestwert. Es sind schon einige gefallen, andere jagt er noch – eine Auswahl.
Grand-Prix-Siege: Die Fabelzahl zum Greifen nah
Als Michael Schumacher 2006 als Sieger auf das Podest von Monza wandelt, die Zeigefinger gen Himmel gestreckt, dann die Hände zu Fäusten geballt, da weiss die tobende Menge, dieses Meer an Zehntausenden in Rot unter ihm, noch nicht, was er kurz danach zu sagen hat: Es wird sein letzter GP von Italien gewesen sein – zumindest für Ferrari. Am Funk hat er das ganze Team informiert, später folgt die Öffentlichkeit – und das mittlere Erdbeben im motorsportverrückten Stiefel Europas.
Schumacher tritt ab als Erfolgreichster, den diese Sportart je gesehen hat, vielleicht sogar als Grösster. Er siegt auch noch in China und beendet seine Karriere mit 91 Triumphen – ehe er sich 2010 zur Rückkehr entschliesst. Doch in drei Saisons mit Mercedes will ihm kein weiterer Sieg gelingen. Sein Nachfolger bei den Silberpfeilen? Lewis Hamilton. Es folgt in der Ära der Hybridmotoren eine jahrelange Machtdemonstration des Briten, die am Sonntag in Sotschi im 91. Sieg gipfeln kann. Er würde einen Bestwert einstellen, der für unschlagbar gehalten wurde.
WM-Titel: Nummer 7 – und Hamilton hat noch nicht genug
Zwei Pokale mehr als Juan Manuel Fangio, drei mehr als Alain Prost und vier mehr als Ayrton Senna: Schumacher setzt Anfang der 2000er-Jahre mit Ferrari zu einem nie da gewesenen Höhenflug an. Er landet erst nach fünf Jahren und fünf WM-Titeln am Boden. Siebenmal Weltmeister ist er geworden, zweimal zuvor schon mit Benetton, und die Fachwelt ist sich einig: Diese Marke wird keiner knacken.
16 Jahre später kann nur noch ein Wunder dafür sorgen, dass der Deutsche weiter als alleiniger Rekordhalter dasteht. Weltmeister mit McLaren 2008 und fünffacher Champion mit Mercedes ist Lewis Hamilton schon. Nun trennen ihn als WM-Leader bei acht ausstehenden Rennen bereits wieder 55 Punkte von Bottas auf Platz 2. Bald wird Schumacher auch bei seinem wichtigsten Rekord Hamilton auf Augenhöhe haben. Und: Dieser denkt noch nicht daran, aufzuhören. Während die Formel 1 in der nächsten Saison mit praktisch unveränderten Rennwagen um die Strecken hetzt, liess Hamilton durchblicken, dass er unbedingt auch 2022 dabei sein will, wenn die Autos einer Generalüberholung unterzogen werden.
Polepositions: Hamilton in eigener Liga
Nicht mehr lange, und Hamilton hat die 100er-Marke erreicht. 95 Grands Prix hat er schon von zuvorderst in Angriff genommen. Die 68 Polepositions von Schumacher auf Rang 2 wirken da schon fast niedlich. Und die Quote spricht eine noch deutlichere Sprache. Zu 307 Rennen ist Schumacher gestartet: Ergibt eine Poleposition-Quote von 22,1 Prozent. Bei Hamiltons 259 Auftritten in der Formel 1 und 95 ersten Plätzen im Qualifying kommt der Brite auf eine Prozentzahl von 36,7. Mehr als jede dritte Zeitenjagd hat er für sich entschieden.
WM-Punkte: König Hamilton
Es ist reichlich unfair, die nackten Zahlen zu vergleichen. Die lauten: 3621:1566. Kantersieg für Hamilton über Schumacher nach WM-Punkten. Nur gilt seit 2010 eine andere Zählweise, erhält der Sieger 25 und nicht mehr nur 10 Punkte und werden die ersten zehn Piloten belohnt, nicht die besten sechs oder acht wie zu Zeiten Schumachers. Doch selbst wenn rückwirkend die gesamte Ära Schumacher – und ein Teil der Ära Hamilton – anhand des neuen Systems umgerechnet wird, bleibt der Brite der König der Punkte. Allerdings knapp. 3961:3890 heisst es dann zu seinen Gunsten.
Schnellste Rennrunde: Hält Schumachers Marke?
Sie wird seit letztem Jahr mit einem Zusatzpunkt honoriert, und auch sonst täte Hamilton gut daran, noch ein paar schnellste Rennrunden zu sammeln. Denn diesbezüglich ist Schumacher unangefochtener Leader. Mit 77 liegt er deren 26 vor dem zweitplatzierten Mercedes-Piloten.
Dritter in dieser Statistik ist übrigens – es mag überraschen – Kimi Räikkönen. Bei 46 Grands Prix setzte der Finne, der bei Ferrari Nachfolger Schumachers wurde, eine Zeit, die nicht mehr unterboten wurde. In Sotschi wird der Pilot des Schweizer Teams Alfa Romeo gar auf Rang 1 einer anderen Rekordliste klettern. Weit vor Hamilton oder Schumacher. Bis zum Grand Prix am Sonntag hat einzig Rubens Barrichello ein Rennen mehr bestritten als Räikkönen mit seinen 322.
Podestplätze: Mehr darauf als daneben
Die Fans von Schumacher und Hamilton erfolgsverwöhnt zu nennen, ist eine arge Untertreibung. Alles andere als der Sieg oder zumindest ein Podestplatz war – oder ist – eine Enttäuschung. Untermauert wird das von der Zahl an Top-3-Rangierungen. 155-mal bestieg Schumacher ein Podium, mehr als jedes zweite Rennen endete für ihn also im Champagner-Rausch. Noch eindrücklicher ist Hamiltons Ausbeute. 158 Podestplätze bei 259 Starts macht eine Quote von sagenhaften 61 Prozent.
Führungskilometer und -runden: Unentschieden
Die Hälfte des Grand Prix von Belgien 2020 ist vorbei, da hat Hamilton auch diesen Rekord gebrochen: 24’110 Kilometer war Schumacher einst vor dem ganzen Feld herumgekurvt, nun hat ihn der Ausnahmefahrer im Silberpfeil übertrumpft. 24’688 Kilometer lang sah Hamilton bislang keinen Gegner vor sich – zumindest keinen, den er nicht schon überrundet hätte. Oder anders gesagt: Er fuhr in seinem Geburtsort Stevenage, Hertfordshire, als Führender los, umrundete die Erde parallel zum Äquator, und kehrte als Führender wieder zurück.
In Sachen Runden an der Spitze hat allerdings Schumacher noch einen kleinen Vorsprung. 5111:4863 steht es in dieser Wertung. Zusammengerechnet sind die beiden rund 170 Grands Prix lang vor dem Feld hergefahren.
Andere Rekorde: Von Wow bis Gugus
Der Vergleich der beiden Formel-1-Ikonen liesse sich fast beliebig weiterführen: 62 Rekorde halten Hamilton und Schumacher gemäss Statistik – entweder allein oder zusammen mit anderen. 40 gehen allein auf das Konto des aktuellen Überfahrers. Es gibt erstaunliche Bestwerte wie die Anzahl an Siegen in einem Formel-1-Jahr (13:11 für Schumacher), die meisten Siege bei unterschiedlichen Grands Prix (25:22 für Hamilton) oder die meisten aufeinanderfolgenden Saisons mit mindestens einem Triumph (15:14 für Schumacher). Darunter aber auch Dinge wie die meisten Siege in einem Kalendermonat (Hamilton 4).
Ein Satz von Marcel Hirscher, dem einstigen Dominator des Skizirkus, trifft es da ganz gut: «Rekorde werden oft von Journalisten heraufbeschworen: die besten Zwischenzeiten bei Vollnacht oder bei Halbmond.» Doch die meisten Rekorde, die Schumacher aufgestellt hat, die nun Hamilton erreicht, sind Fabelwerte. Und sie halten für die Ewigkeit. Oder bis der nächste Hamilton um die Ecke biegt.
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