«Der Zürichsee strahlt zu wenig Gefahr und Drama aus»
Der Schriftsteller Catalin Dorian Florescu gilt als einer der virtuosesten Geschichtenerzähler der Schweizer Literatur. In Thalwil liest er unter anderem aus seinem neuesten Roman. Ein Gespräch über Sehnsucht, Migration und die Frage, weshalb New York, anders als Zürich, ein Versprechen des Glücks bereithält.

Ihr neuester Roman spielt in New York und in Rumänien. Wasser ist in beiden Welten ein wiederkehrendes Element — weshalb?Catalin Dorian Florescu: Manhattan und das Donaudelta sind geprägt von Flüssen. Dies ergab sich durch die Wahl der Heimatorte der Figuren. Die Hauptperson Ray ist einem New Yorker nachempfunden, den ich bei den Recherchen zu einem Roman kennenlernte. Und am anderen Ende der Welt erkrankt Elenas Mutter an Lepra. Damit war das Donaudelta gesetzt, wo sich die Leprakolonie in Ostrumänien befindet.
Noch immer befindet?Es gibt sie tatsächlich noch. Die Leute leben heute frei, die Krankheit ist ja nicht mehr aktiv, sie könnten die Kolonie verlassen, doch der Ort ist ihr Zuhause geworden.
Der East River trägt Särge davon, der Fischer-Vater ertrinkt in der Donau. Weshalb diese Verbindung von Wasser und Tod?Für mich ist das Wasser im Roman ebenso stark mit dem Tod wie mit dem Leben verbunden. Die Donau ernährt die Bewohner des Deltas, hält sie aber auch gefangen in einer urtümlichen Welt. Die Flüsse New Yorks waren zur Zeit des Romanbeginns, um 1900 herum, pulsierende Transportwege. Und in den Hafen liefen täglich Schiffe aus Europa ein, voller Migranten. Wasser kann also ein Verbündeter des Menschen sein, aber ihn auch vernichten.
Ihre Figuren sind geprägt von den Wanderungen des 20. Jahrhunderts – eine Fürsprache für Migration?Aufbruch aus der Heimat und Ankunft in der Fremde sind zeitlose Themen. Alle meine Romane handeln von der Heimat- und Glückssuche. Von der Suche nach einem würdigen Leben. Das heisst, keine Angst zu haben und nicht hungern zu müssen. Der Migrant flieht immer vor einer Gefahr. Die Migration gehört als Konstante der Menschheitsgeschichte dazu, und es gilt, ihre Gründe anzugehen.
Ist nicht auch Sehnsucht ein Grund für Migration?Die Sehnsucht kommt erst später. Als Heimweh. Was ein Migrant sucht, ist Sicherheit; einen Ort, wo er nicht getötet wird, wo er nicht an Unterernährung stirbt. Die Iren waren abgemagert bis auf die Knochen, als sie um 1850 in Amerika ankamen, auf sie folgten hungrige Italiener und verfolgte Juden. Existenznot ist der Grund auszuwandern, das ist auch meine Erfahrung.
Weshalb ist Ihre Familie nach Zürich ausgewandert?Nicht Sehnsucht hat uns hierhin geführt, wir wussten ja nichts von der Schweiz. Die Schweiz war ein Zufallsereignis. Zuneigung gegenüber dem Land entwickelt man erst später, wenn man die Chance bekommt, sich einzubringen und sich ein Zuhause zu erschaffen.
Sie verbindet eine Nabelschnur zu Rumänien, die auch Ihr literarisches Werk prägt. Wo fühlen Sie sich zuhause?Ich habe keine Heimat, aber zwei Zuhause. Rumänien prägte meine Kindheit, die Grunderfahrungen, die konstitutiv für meine Identität sind: Kinderlieder, Lieblingsgerichte, Gestik, Humor, Kommunismus... Die 34 Jahre in der Schweiz haben meine geistige Entwicklung geprägt; mein Menschenbild, meine Werte, mein Denken.
Widerspiegelt sich dieser Bruch Ihrer Identität in der geografischen Zweiteilung des Romans?Das kann sein. New York reflektiert den urbanen, dynamischen Teil von mir, Rumänien mit seinen Mythen den archaischen. Das Archaische wiederum ist auch eine Antwort auf das Urbane; es bereichert die Welt aus Zement.
Ist New York nur eine Schablone, eine Projektionsfläche?New York ist eine Projektion von Sehnsüchten vieler Menschen. Eine Fata Morgana des Glücks. Man glaubt, es dort schaffen zu können, doch die meisten wuseln nur Ameisen gleich um riesige Stahl- und Glastürme herum.
Sie sprechen über New York, als würden Sie es wie Ihre Westentasche kennen. Wie lange dauerte Ihre Recherche?Die Recherche für das Buch dauerte vier Jahre, in New York war ich nur einige Monate, in denen ich intensiv fotografiert, gefilmt, viele Gespräche geführt, Museen besucht und ein Gefühl für die Stadt entwickelt habe.
Weshalb funktioniert Zürich, der Zürichsee, nicht als Projektionsfläche wie New York?Dafür strahlt er zu wenig Gefahr und Drama aus. Der Zürichsee ist, zumindest für mich, frei von Mythen, Legenden und Zauber. Eine Badewanne im Sommer. Daraus kann ich keine Poesie erschaffen.
Der Zeitungsjunge in New York ist immer am Puls der Zeit, im Donaudelta hinken sie arg hinterher. Wie wichtig sind News?Für den Zeitungsjungen sind Sensationsschlagzeilen überlebenswichtig. Er erfährt die Welt als Schlagzeile, doch sein Leben, das Leben der Armen, ist nicht eine Zeile wert. Während dessen ziehen die Geschehnisse der Welt an den Bewohnern des Donaudeltas vorbei. Dennoch wollen auch sie teilhaben an den Verheissungen der Welt, von der sie nur dann und wann was erfahren.
Ihre Protagonisten wachsen elternlos auf. Sind behütete Kinder weniger inspirierend?Als Künstler sucht man die Brüche, das Drama, nicht das Glatte. Man kann natürlich auch über behütete Kindheiten schreiben, doch wahrscheinlich würde es dann darum gehen, Brüche in der glatten Oberfläche der Familienharmonie zu suchen.
In Thalwil lesen Sie aus zwei Romanen und erzählen von weiteren. Wo liegt der Fokus?Der Fokus ist die spontane Begegnung. Ich lese, verführe, erzähle, improvisiere, schweife ab. Es ist eine Mischung aus Heiterkeit und Tiefsinn.
Freitag, 10. März, 20.15 Uhr, Kulturraum Thalwil, Bahnhofstrasse 24.
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