Der typische Schweizer wohnt nur 27 km vom Mami entfernt
An Weihnachten kehren viele an den Ort ihrer Kindheit zurück. Wir haben diese Distanz berechnet und eine Schweiz mit eng gestrickten Familienbanden entdeckt.
Über die Festtage ist die ganze Schweiz auf den Beinen und Rädern - man trifft sich landauf, landab zum Familienfest. Diese Reisehektik bestärkt das Bild von zunehmend wurzellosen Menschen, ständig unterwegs, möglichst weit weg vom Elternhaus lebend.
Doch der Schein trügt und verdeckt eine grundlegende Tatsache: Der typische Schweizer wohnt lediglich 27 Kilometer weit vom Mami entfernt, wie eine Datenanalyse des Tagesanzeigers zeigt. Die Menschen sind in den letzten Dekaden auch nicht mobiler geworden. Im Gegenteil: Die meisten Erwachsenen wohnen nicht weiter vom Elternhaus weg als vor 50 Jahren. Und rund die Hälfte hat auch heute noch den Wohnsitz im Kanton, in dem er oder sie geboren wurde.
Für unsere Analyse haben wir anhand von Link
Wir haben so eine Schweiz entdeckt, in der die Familienbande viel enger gestrickt sind als gemeinhin angenommen. Eine Schweiz auch, in der - allen Unkenrufen vom Zerfall der Familie zum Trotz - die Generationen in engem Kontakt stehen, sich gegenseitig helfen und unterstützen. Das kommt auch an Weihnachten zum Tragen.
«Weihnachten ist immer noch das Familienfest schlechthin», sagt der Soziologe Francois Höpflinger. Er erforscht an der Universität Zürich schon viele Jahre die Beziehung zwischen den Generationen und weiss, dass vor allem die Enkel und die Grosseltern solche Rituale lieben und sie sich nicht zuletzt deshalb grosser Beliebtheit erfreuen.
Am wenigsten weit sind die Appenzeller weggezogen
Die Familie habe aber überhaupt in den letzten Jahren eine Aufwertung erfahren. Das sei in unsicheren Zeiten immer der Fall, weshalb ihn der Befund von der Nähe zwischen den Eltern und Kinder keineswegs überrascht: «Die Generationen sind in den letzten Jahrzehnten vielmehr zusammengewachsen, aber nicht geographisch. Die Distanz ist etwa gleichgeblieben, aber man ist in engerem Kontakt miteinander - dank Internet, Handy und verbesserten Reisemöglichkeiten.»
Unser Resultat von 27 Kilometern, die der Erwachsene hierzulande bis zum Elternhaus im Durchschnitt reist, deckt sich mit Studien der Sozialwissenschaftlerin Bettina Isengard. Laut ihren Berechnungen haben 65 Prozent der über 50-Jährigen mindestens ein erwachsenes Kind, das nicht weiter als 25 Kilometer entfernt wohnt. «Das entspricht in etwa dem europäischen Durchschnitt. Von daher ist das eigentlich kein aussergewöhnlicher Befund», sagt Isengard, die für ihre Habilitationsschrift an der Uni Zürich aktuell die Verbundenheit in Familiengenerationen in 14 europäischen Ländern untersucht hat.
Wenn wir nun schauen, wen es am wenigsten weit in die Welt hinaus getragen hat, sind es die weggezogenen Appenzeller, Nidwaldner und Zuger. Sie legen in diesen Festtagen mit 50 bis 60 Kilometern den kürzesten Weg zu ihren Wurzeln zurück.
(Falls Sie sich wundern, dass diese Distanz grösser ist als die im Titel genannten 27 Kilometer, dann weil es sich bei diesen Zahlen um die Durchschnittsdistanz der Weggezogenen handelt, während sich die 27 Kilometer auf die Pro-Kopf-Entfernung aller Schweizer im Schnitt bezieht.)
Ebenfalls eher kurz unterwegs ist die Bevölkerung in den Kantonen Uri, Bern und Jura. Hier sind über 60 Prozent der Bewohner im Kanton geboren und können nicht selten zu Fuss auf einen Kaffee zu den nächsten Verwandten.
Am weitesten verreist sind dagegen die gebürtigen Tessiner. Sie nehmen an Weihnachten im Durchschnitt einen Weg von 214 Kilometer auf sich, gefolgt von den Berglern: den Wallisern, den Bündnern und den Jurassiern. Dieser Befund ist darauf zurückzuführen, dass sie vom Rand der Schweiz teils grosse Distanzen oder gar Pässe überwinden müssen, um in andere Kantone zu gelangen.
Über die Gründe, warum manche Kinder weiter weg von ihren Eltern wohnen als andere, lasse sich häufig nur spekulieren. Sicher macht es die räumliche Nähe den Generationen einfacher, sich gegenseitig zu unterstützen. «Grosseltern sind heute etwa ein wichtiger Bestandteil des Kinderbetreuungssystems», sagt Isengard.
Nicht selten übernehmen sie regelmässige Hütedienste und helfen im Haushalt, damit ihre erwerbstätigen Kinder den stressigen Alltag mit Familie und Jobs bewältigen können. Manchmal wechseln die Grosseltern deshalb sogar den Wohnort, wie Professor Höpflinger: «Meine Frau und ich sind vor 13 Jahren aus dem Kanton Graubünden wieder nach Horgen gezogen, um unsere Tochter nach der Geburt des Enkels zu unterstützen».
Über weite Strecken spiegelt die Nähe zu den Eltern aber auch einfach die Möglichkeiten wider; die wichtigsten Faktoren, die diese Distanz beeinflussen, sind Bildung und Einkommen: «Je höher Eltern und Kinder gebildet sind, was ja meist unmittelbar zusammenhängt, desto weiter wohnen sie voneinander entfernt», sagt Isengard. Je besser die Ausbildung, desto höher das Einkommen, desto eher können sich junge Eltern eine Nanny oder Haushalthilfe leisten. Die Kassiererin im Spar indes dürfte auf die Hilfe ihrer Mutter angewiesen sein.
Gut ausgebildete Leute finden zudem oft nur in urbanen Zentren wie Zürich einen Job. Viele Junge müssen ihren Geburtskanton verlassen, wenn sie studieren möchten, Appenzeller, Nidwaldner oder Thurgauer etwa. Deshalb wohnen erwachsene Kinder laut Isengard aus ländlichen Regionen im Schnitt weiter von ihren Eltern entfernt als jene aus städtischen Gebieten. Aber auch konkurrierende Geschwister, also ob ein Bruder oder eine Schwester in der Nähe der Eltern lebt, beeinflussen die eines Wohnortes.
Die Nähe zum Herkunftsort komm aber auch der jüngeren Generation bei der Umsorgung pflegebedürftiger Eltern zugute, wenn das auch weniger die Wahl des Wohnortes bestimmt. «Allerdings kommt ein Zusammenleben im gleichen Haus selten vor, ausser in Bauernfamilien», sagt Höpflinger, der auch Leitungsmitglied des Zentrums für Gerontologie an der Universität Zürich ist. In der Schweiz werden aus historischen Gründen noch relativ viele alte Menschen in Pflegeheimen betreut.
Beim Blick über die Landesgrenzen entdeckt man trotz grossen Übereinstimmungen zwischen den Ländern markante Unterschiede. In Nationen wie Schweden oder Dänemark, wo der Staat Familien stärker unterstützt, wohnen die Generationen am weitesten auseinander. «Das kann damit zusammenhängen, dass die Notwendigkeit zur Hilfe geringer ist als in schwachen Wohlfahrtsstaaten», sagt Isengard.
Und je ärmer die Menschen eines Landes sind, desto näher beisammen leben die Familien. Auch die Religion scheint einen Einfluss auf die Distanz zu haben: «In Ländern mit einem höheren Anteil von Katholiken wohnen die Generationen ebenfalls näher beieinander», hat die gebürtige Deutsche herausgefunden.
Und was bringt die Zukunft? Rücken die Generationen räumlich noch näher zusammen, weil Eltern und ihre Kinder aufgrund der alternden Gesellschaft mehr aufeinander angewiesen sein werden? Oder werden im Zuge der Globalisierung die Leute noch mobiler sein und weiter voneinander wegrücken? Beides sei möglich, sagt die Wissenschaftlerin: «Sicher ist auf Basis unserer Forschung, dass die Beziehungen emotional eng bleiben und auch weiterhin häufige Kontakte bestehen und die Generationen trotz räumlicher Distanz im Bedarfsfall füreinander einstehen.» Good News.
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