Interview mit Zürcher Regisseur«Der Skandal ist immer lauter als die Wahrheit»
Das ZFF eröffnet mit Michael Steiners «Und morgen seid ihr tot». Der Regisseur sagt, wieso er von Schweizer Taliban-Geiseln erzählt – und kritisiert die Medien.
Holztäfer und ein massiver Stammtisch: Das Kronenstübli würde gewöhnlich-schweizerisch anmuten, wäre hier nicht gerade ein mexikanisches Pop-up. La Reina del Barrio nennt es sich. In den Blumentöpfen stecken fröhliche Totenschädel, an der Wand hängt ein Marienbild mit Lichterkette. Wir treffen hier Michael Steiner, den Regisseur von «Grounding» und «Wolkenbruch». Das diesjährige Zurich Film Festival wird mit seinem neuen Film eröffnet: «Und morgen seid ihr tot». Das ist die Geschichte der Schweizer Taliban-Geiseln Daniela Widmer und David Och, die 2012 aus der Gefangenschaft fliehen konnten.
Steiner stellt sich hinter die Bar des Kronenstübli, sucht Mix-Werkzeug heraus, stellt Flaschen und Limetten auf die Arbeitsfläche. Der Zürcher hilft regelmässig im Pop-up aus, denn seine Freundin Samantha Meier betreibt es. Jedes Jahr für ein paar Monate, jeweils an verschiedenen Orten. Steiner übernimmt das Marketing oder den Dienst an der Bar. Damit wir auch glauben, dass ein Filmemacher zum Barmann taugt, mixt er erst einmal einen Paloma, einen typisch mexikanischen Drink aus Grapefruit-Limonade und Tequila.
Für Restaurants gilt jetzt eine Zertifikatspflicht. Macht das Ihrem Pop-up Probleme?
Ich finde zwar, es sollte jedem selbst überlassen sein, was er mit seinem Körper macht. Das ist mein anarchistisch-liberaler Ansatz. Wenn aber nun Menschen wegen einer temporären Massnahme mit Begriffen wie Faschismus um sich werfen, hört mein Verständnis auf. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass Impfungen eine Erfolgsgeschichte sind. Deswegen habe ich mich auch impfen lassen. Das Zertifikat wird wie in allen anderen Ländern wieder verschwinden und die Aufregung verebben. Viel Lärm um nichts.
Das Zurich Film Festival eröffnet mit Ihrem neuen Film, «Und morgen seid ihr tot». Dafür ist ebenfalls ein Zertifikat nötig.
Das ist auch gut so, denn dann können wir die Masken weglassen. Ohne die ist ein Opening wesentlich angenehmer. Ich bin gespannt, ob die Leute sich in die Filme trauen. Die Maskenpflicht hat viele Menschen vom Kinobesuch abgehalten. Nun kann man bei James Bond unbeschwert Popcorn essen und Cola trinken, ohne das Gefühl zu haben, den Sitznachbarn maskentechnisch zu verärgern.
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Bekannt sind Sie als Regisseur, aber Sie sind auch in der Gastro aktiv. Sie helfen Ihrer Partnerin im Pop-up, vertreiben mit ihr auch Fruchteis unter dem Label La Crema de la Crema.
Mein Werdegang fing in der Gastro an, mit zwanzig führte ich mit Freunden das Restaurant Bären in Rapperswil. Mit Beat Schlatter gründete ich die «Bingo-Show-Abende», das war eine Art Eventgastrokultur. Ich habe als Barmann gejobbt in der Bar am Egge und mit dem Glatten Köbi dieses Jahr während der Fussball-EM den Fans ein wenig aus der Corona-Lethargie geholfen. Gastronomie ist meine zweite Leidenschaft neben dem Film.
Was gefällt Ihnen daran, hinter dem Tresen zu stehen?
Ich komme in Kontakt mit Menschen ausserhalb der Film-Bubble. Besonders gern arbeite ich an einer Bar, wenn ich mich in der Drehbuchphase befinde. Während der Dreharbeiten bin ich stets unter Leuten, aber das sind für mich drei bis fünf Monate alle zwei Jahre. Den Rest der Zeit schreibe und konzipiere ich, und dabei bin ich oft allein. Dann ist es gut, wenn ich am Abend rauskomme und eine andere Aufgabe habe. Zudem kann ich den Menschen den Puls fühlen.
Haben Sie mit den Gästen auch über den neuen Film gesprochen?
Das waren sehr interessante Gespräche. Der Film handelt von Daniela Widmer und David Och, die in Pakistan von Taliban entführt wurden. Wenn ich Leuten erzählt habe, dass ich diese Geschichte verfilme, war die erste Reaktion immer: Was, die zwei Trottel? Zu neunzig Prozent waren die Reaktionen negativ.
Die beiden wurden damals heftig kritisiert, gerade in den Medien.
Am schlimmsten fand ich den «Tages-Anzeiger» mit der Schlagzeile: «Sorry, wir haben kein Bedauern». Das war, nachdem Widmer und Och das Buch über ihre Erlebnisse veröffentlicht hatten. Es war blanker Zynismus aus der wohlstandsgeschützten Schreibstube. Nach dem Motto: Die sind halt selbst schuld, wenn sie nach Pakistan reisen.
Ist die Kritik denn nicht verständlich?
Das Problem ist, dass wir ein verzerrtes Bild davon haben, wie es ist, innerhalb von Pakistan zu reisen. Die Sicherheitswarnungen sind nicht anders als die für Mexiko oder Ägypten. Bei den Schweizer Touristen, die damals in Luxor ermordet wurden, sagt ja zu Recht auch keiner, dass die Opfer selbst schuld waren. Ich kann mir bis heute nicht genau erklären, weshalb die öffentliche Meinung über Widmer und Och so negativ ist und weshalb die Presse damals nur sehr oberflächlich recherchiert hat. Dabei muss man nur auf die Karte schauen, um zu sehen, dass die beiden 400 Kilometer südlich der Region Waziristan entführt wurden, wohin sie die Taliban über die Berge verschleppten. Sie waren einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort.
Wann war für Sie klar, dass Sie einen Film über die zwei machen wollen?
Schon kurz nach ihrer Rückkehr. Wenige Monate später hab ich mich bei ihnen gemeldet.
Waren die zwei bereit, mit Ihnen über ihre Erfahrungen zu sprechen?
Am Anfang waren sie vorsichtig, weil sie schlechte Erfahrungen mit der Presse gemacht hatten. Sie schrieben dann zuerst ihr Buch. Danach nahm ich die Verfilmung in Angriff, damals noch mit der Constantin Film. Einige Förderstellen lehnten den Film aber ab, und 2016 war das Projekt tot.
Was waren die Gründe für die Ablehnung?
Bei der Filmförderung weiss man nie, was hinter den Entscheidungen steckt, das kann inhaltliche, filmpolitische oder formale Gründe haben. Mit Zodiac Pictures habe ich dann nochmals von vorn angefangen, und so entstand ein weiteres, aber komplett neues Drehbuch, geschrieben von Urs Bühler.
«Der Pashto-Übersetzer, der in Indien für uns arbeitete, sitzt zurzeit in Kabul fest.»
Und jetzt feiert der Film Premiere. Nur Wochen nachdem das amerikanische Militär Afghanistan verliess und die Taliban die Macht im Land übernommen haben.
Es hätte wirklich niemand gedacht, dass der Film so aktuell wird. Es geht darin zwar um den pakistanischen Arm der Taliban, aber der hängt ja mit Afghanistan zusammen. In Bezug auf das Territorium haben die beiden Gruppen dasselbe Ziel: Das Volk der Paschtunen will sein eigenes Land. Das ist der Hauptmotor der Taliban. Auch die Entführer sagten Widmer und Och immer wieder, dass sie ihr Land zurückhaben wollten. Da scheint die Religion irgendwie auch Mittel zum Zweck zu sein. Der Pashto-Übersetzer, der in Indien für uns arbeitete, sitzt zurzeit in Kabul fest. Unsere indische Produktionsfirma versucht, ihn mit einem Visum herauszubekommen. Trotzdem hat er Angst, das Haus zu verlassen. Es gibt überhaupt keine Sicherheit in Kabul, noch herrschen zu viel Chaos und Willkür. Eine Ausreise wäre noch zu riskant.
Sie haben nicht in Pakistan gedreht, sondern in Nordindien.
In Pakistan wäre es zu gefährlich gewesen, zumal die pakistanische Regierung nicht gut wegkommt bei der Geschichte. Wir mussten also in Indien Pakistan inszenieren, was nicht so einfach ist, angefangen bei Sprache und Schrift bis hin zur Kleidung und zu den Verhaltensregeln.
Während der Dreharbeiten kam dann noch Corona.
Ja, wir mussten im März 2020 den Dreh abbrechen mit nur noch sechs ausstehenden Drehtagen. Erst im Dezember konnten wir in Südspanien den Film zu Ende drehen.
Denken Sie, mit dem Film können Sie die öffentliche Meinung über Widmer und Och korrigieren?
Ja, sonst hätte ich ihn nicht gemacht. Die Menschen sind heutzutage schnell damit, aufgrund von Schlagzeilen ein Urteil zu fällen. Eine Verunglimpfung kannst du nie wieder gutmachen, selbst wenn du irgendwann die Rehabilitierung erreichst. Man steht auf der Frontseite mit der Schande, aber auf der letzten Seite mit der Richtigstellung. Der Skandal ist immer lauter und nachhallender als die Wahrheit.
Sie selbst gerieten bei der Produktion von «Sennentuntschi» in die Schlagzeilen, es wurde über Koks, Escorts und drohenden Konkurs berichtet. War auch das ein Grund, gerade diese Geschichte zu verfilmen?
Mit mir selbst hab ich das noch nie in Verbindung gebracht, ich wähle meine Stoffe ja nicht aus Gründen wie Verletztheit oder Rache aus, so was führt zu keinem guten Ergebnis. Aber ja, ich kann die Sicht der Opfer nachfühlen, wenn es um die Berichterstattung geht. Ich verstehe, wie es ist, wenn dir Sachen vorgeworfen werden, die nicht stimmen, und wie mühsam es ist, solche Vorwürfe zu widerlegen. Unsere Produktionsfirma ist wegen «Sennentuntschi» zum Beispiel nie in Konkurs gegangen. Wir hatten einen Liquiditätsengpass, konnten die Firma aber nach einigen Monaten durch Verkauf retten. Trotzdem hatte ich den Stempel als Pleitegeier am Hals. Im Grunde war meine Motivation bei «Und morgen seid ihr tot» gleich wie bei «Grounding». Da fand ich auch: Leute, mit der Geschichte, wie sie in der Öffentlichkeit kolportiert wird, stimmt etwas nicht. Man hat den Swissair-CEO Mario Corti schnell begraben, anstatt zu recherchieren. Ich finde, es wäre die Aufgabe der Journalisten gewesen, genauer hinzuschauen. Wie bei Widmer und Och.
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Haben die beiden den Film schon gesehen?
Ja, sobald der Feinschnitt fertig war. Sie sagten mir, sie hätten die Zeit bei den Taliban tatsächlich so empfunden. Aber natürlich ist eine Geschichte im Film stark komprimiert. Es gibt stets viel mehr zu erzählen, andere Perspektiven zu berücksichtigen, aber das Gefühl, der Eindruck steht bei mir immer an erster Stelle. Auch wenn der nur aus einer subjektiven Perspektive stammt.
Demnächst drehen Sie Ihre erste Serie.
Das ist meine erste Arbeit für das Schweizer Fernsehen seit 2001, seit dem TV-Movie «Spital in Angst». In der Serie gehts um eine Detektivschule in Basel. Im November beginnen wir im Studio in Zürich, im Januar wechseln wir für die Aussenaufnahmen nach Basel.
Ist es ein grosser Unterschied, eine Serie oder einen Film zu machen?
Viel kann ich dazu noch nicht sagen, es ist meine erste Serie. Pro Tag werden wir doppelt so viel drehen müssen wie bei einem Spielfilm, ich überlege mir noch, wie genau ich das hinkriegen soll. Ich freu mich aber, in Basel zu drehen, die Stadt bietet viele Motive, wie sie sonst nirgends in der Schweiz zu finden sind. Und die Drehbücher sind spannend geschrieben.
Gibts weitere Pläne für die Zukunft?
Irgendwann möchte ich einen Science-Fiction-Film drehen. In der Schweiz ist das nicht so einfach, denn technische Gadgets oder gar Raumschiffe kosten viel Geld. Aber in den Alpen finde ich sicher irgendwann einen Flecken, der einen fremden Planeten oder eine andere Zeitepoche darstellen kann. Oder beides zusammen. Vielleicht so was wie «Covid 2295: Die Dystopie endet nie». Oder doch was Heiteres. Mal schauen, ich wechsle ja gerne die Genres.
«Und morgen seid ihr tot» startet am Zurich Film Festival. Hier gibts die Spielzeiten. Regulärer Kinostart ist am Do 28.10.
La Reina del Barrio: Mi–Sa ab 20 Uhr, bis Sa 9.10. Limmatquai 88, lareinadelbarrio.ch. Reservation erwünscht.
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