Interview mit Philosoph«Der Kapitalismus ist eh vorbei»
Armen Avanessian sagt, wir brauchen keine Entschleunigung, sondern das Gegenteil: eine Technopolitik, die den fortschrittlichen technologischen Entwicklungen den nötigen Schub gibt.
Herr Avanessian, in letzter Zeit hört man immer wieder Leute sagen: «Die Pandemie ist zwar mühsam, aber immerhin habe ich nun Zeit für Selbstreflexion.» Daran stimmt doch was nicht, oder?
Armen Avanessian: Es mag ja sicher ein paar Leute geben, die ein schönes Häuschen im Tessin haben und von dort aus ein bisschen arbeiten und über sich nachdenken können. Aber die meisten Menschen bringt die Situation in eine grössere Prekarität. Homeoffice produziert bei vielen mehr Stress und ganz und gar nicht die romantische, von der Upper-Middle-Class nostalgisierte Entschleunigung.
Trotzdem heisst es jetzt: Ein ressourcenschonendes Leben ist möglich, wenn wir verzichten und einfacher leben. Wie früher.
Die Frage ist, auf welcher Fantasie diese Vorstellung beruht. Woher kommt dieses nostalgische Wiederherstellen der Vergangenheit? Man kann ja schon davon träumen, dass es in der Schweiz wieder so wird wie vor 30 Jahren. Aber das lassen sich diejenigen, die den Preis dafür gezahlt haben, nicht mehr gefallen. Das sind erst mal die Gruppen, die die Rohstoffe produziert und verarbeitet haben, damit es uns gut gegangen ist. Diese Art von Vergangenheitsverklärung ist also schon mit Blick auf China, Osteuropa oder Südamerika vollkommen unrealistisch. Zudem reden wir heute von weltweit 8 bis 10 Milliarden Menschen, die Ressourcen verbrauchen, also von sehr viel mehr als früher.
Sie sind ein Vertreter des Akzelerationismus, der davon ausgeht, dass man die fortschrittlichen Tendenzen des Kapitalismus endlich für alle Wirklichkeit werden lässt. Gilt das auch für die Bewältigung des Klimawandels?
Generell gibt es momentan zwei Seiten: Die eine identifiziert die Moderne mit Fortschritt und Kapitalismus und sagt: «Das ist das Einzige, was wir haben, und es hat gute Technologien und wissenschaftliche Erkenntnisse hervorgebracht. Also setzen wir darauf.» Die andere Seite sieht darin nur eine unmöglich aufrechtzuerhaltende Wachstumsfantasie. Sie hinterfragt deshalb generell die Kategorien des Fortschritts, setzt stattdessen auf Communitys und auf den Austritt aus dem System. Ich denke, beides ist falsch.
Wieso?
Weil die Klimakrise, die aus der Zukunft immer näher auf uns zukommt, nur zu lösen sein wird, indem wir die Technologien, die wir haben, wirklich progressiv anwenden. Stichwort Climate Engineering oder Geo-Engineering. Das wird aber sogleich zur politischen Frage werden. Wenn irgendwo jemand CO₂ absaugt oder einen Wirkstoff in die Atmosphäre pumpt: Wer tut das? Mit welchem Recht und mit welchen Auswirkungen? Diese Fragen wurden noch nicht wirklich gestellt, geschweige denn demokratisch und wirklich international diskutiert.
Da muss sich also auch die Linke mehr Gedanken machen.
Ich denke nicht, dass es nur eine technologische Lösung geben kann. Aber was sicher nicht geht, auch nicht aufseiten der Linken, ist die Verklärung von lokalen Gemeinschaften. Sondern wir brauchen eine fortschrittliche Technopolitik, die an die Versprechen der Aufklärung anschliesst. Also zum Beispiel an den Glauben, dass Wissen und Technik zu einem besseren Leben für die Gesellschaft als Ganzes führen können.
Fehlt es uns diesbezüglich nicht an Visionen für die Zukunft?
Oder umgekehrt, vielleicht haben wir heute eher zu viel Zukunft. Ein solches Ausmass an Wissen über die Zukunft hat es tatsächlich noch nie gegeben. Die Covid-19-Massnahmen beispielsweise beruhen auf konkreten algorithmischen Berechnungen und Simulationen. Durch die Digitalisierung haben wir jede Menge Daten über das, was kommt, was auch bedeutet, dass wir in einem neuem Mass aus der Zukunft gesteuert sind: Beispiel Lockdown, wir setzen ihn ein, bevor alle angesteckt sind. Es geht also weniger darum, sich vorzustellen, wie die künftige Zeit aussehen könnte. Sondern wir müssen das vorhandene Wissen über die kommende Zeit heute produktiv machen.
Was bedeutet das für unseren Alltag?
Wenn ich hier an dieser befahrenen Kreuzung um mich blicke: Wir wissen, dass wir uns schon heute viel klüger im Alltag fortbewegen könnten. Viel schneller und ressourcenschonender, also fortschrittlicher. Wir wissen das, weil wir uns die Technologien zunutze machen können. Solche Chancen werden aber noch viel zu wenig genutzt. So haben wir etwa einen Plattform-Kapitalismus, wir haben Uber, Facebook und Amazon, statt die technologischen Plattformen für ein sozialeres und umweltverträgliches Wirtschaften zu nutzen, das denen zugutekommt, die diese Dienste brauchen, statt sie auszubeuten. Wir müssen uns auch grundsätzlich fragen, wer eigentlich das politische Subjekt der Zukunft sein wird.
Das heisst die Jugend, die Flüchtlinge? Oder wer?
Wir erleben heute eine massive grundsätzliche Auseinandersetzung darüber, was Demokratie bedeutet. Neue politische Gruppen klopfen an der Polis an und sagen: «Wir wollen rein.» Worauf das Establishment sagt: «Nein, ihr seid noch zu klein, ihr seid ja erst 14 und dürft nicht mitreden.» Oder «ihr seid zwar Klimaflüchtlinge hier bei uns wegen unseres Ressourcenkonsums, aber mitreden dürft ihr trotzdem nicht.» Die Aufgabe wird sein, diese neuen politischen Subjekte zu integrieren, aber gleichzeitig auch ein politisches Subjekt miteinzubeziehen, das noch gar nicht existiert, nämlich das politische Subjekt der Zukunft. Wie geben wir denjenigen eine Stimme, die auch ein Recht haben, einmal auf diesem Planeten zu wohnen? Wenn es ein Überleben dieser Gattung geben soll, wird es notwendig sein, darüber nachzudenken.
«Wenn wir später auf Donald Trump zurückschauen, sehen wir womöglich überall Symptome eines Endes des klassischen Kapitalismus.»
Angenommen, man würde eine Gegenwartsdiagnose aus der Zukunft wagen, was würde man dann feststellen mit Blick auf unser Wirtschaftssystem?
Vermutlich, dass der Kapitalismus eh schon vorbei ist. Schaut man in 20 Jahren auf die Finanzkrise 2008 zurück, wird man vielleicht merken, dass der Kapitalismus bereits Geschichte war. Wir wussten es nur noch nicht, da wir es gewohnt waren, das System so zu nennen. Das heisst aber nicht, dass Ausbeutung oder Ungleichheit vorbei wären.
Sondern?
Dass alle Grundannahmen, was Kapitalismus bedeutet, wegbröseln: der Industriekapitalismus, die Idee von fixen Territorien und Bevölkerungen, deren Bruttosozialprodukt man steuert, und so weiter. Stattdessen haben wir es immer stärker mit einer spekulativen Ökonomie zu tun, die aus Geld Geld produziert. Wenn wir später einmal auf Freaks wie Donald Trump zurückschauen, der ja auch bestimmte neoliberale Vorstellungen attackiert, dann sehen wir womöglich überall Symptome eines Endes des klassischen Kapitalismus.
Wenn der Kapitalismus vorbei ist – was kommt danach?
Nicht unbedingt etwas Besseres. Die grosse Gefahr ist, dass wir in einem Finanzfeudalismus aufwachen, einer Mischung aus Trump und Singapur. Wo die liberale Komponente des Neoliberalismus völlig verschwunden ist und wo Länder nach dem Prinzip von börsenkotierten Unternehmen regiert werden, geführt von kleptokratischen CEOs. Durchsetzen könnte sich also eine Autorisierung und Ökonomisierung der Politik, die dem klassischen Kapitalismus komplett widerspricht. Aber wie gesagt, wir leben in zutiefst politischen Zeiten und befinden uns an einer Weggabelung, und es liegt an uns, umgekehrt in eine progressive Richtung zu gehen.
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