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Der Goldene Leopard geht an einen Albtraum

Pedro Costa gewann 2014 in Locarno den Regiepreis für «Cavalo Dinheiro».
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Im ersten Jahr mit neuer künstlerischen Leiterin gewinnt ein typischer Locarno-Film den Goldenen Leoparden: «Vitalina Varela» des Portugiesen Pedro Costa erzählt die Geschichte der 55-jährigen Kapverdierin Vitalina, die sich von der ehemaligen portugiesischen Kolonie nach Lissabon aufmacht, wohin ihr Mann sich vor Jahren abgesetzt hatte. Aber als sie dort ankommt, ist er seit drei Tagen tot.

Costas Porträt einer Trauernden im Bidonville ist ein sublimer Nachtmahr, fotografiert in artifiziellen Horrorbildern mit erstaunlicher Tiefenwirkung und durchsetzt mit Witz, etwa wenn sich Vitalina im kaputten Haus ihres Mannes den Kopf stösst. Nennen wir es ein postkoloniales Schauermärchen über das unbehauste Leben, beeinflusst von Edgar Allan Poe und David Lynch und angesiedelt in einem gespenstischen Kino-Erzählraum, wo die Dinge entrückt scheinen und trotzdem stark wirken. Von den Buchmachern war Pedro Costa gesetzt – er ist ein Liebling der cinephilen Zirkel und hat noch nie an einem A-Festival gewonnen.

Man sieht oft viel Dunkelheit: «Vitalina Varela». Bild: PD

Eine «präzise redaktionelle Linie» wolle sie mit ihrem ersten Programm vorlegen, schrieb die neue künstlerische Leiterin Lili Hinstin im Katalog. Gleichzeitig ziele sie auf eine Öffnung gegenüber Genrekino und Kunstgalerie. Klingt sehr nach Widerspruch, aber auch wenn man die präzise Linie noch nicht genau erkennt, programmierte die Französin klar im Locarno-Geist.

Die Retro zum schwarzen Kino hielten einige Festivalbesucher für zu intellektuell.

Sie formulierte einen offenen Begriff des Kinos, das sich in viele Richtungen ausweitet, auch ins Extreme (speziell in der Sektion «Moving Ahead»). Solche Sachen hat ihr Vorgänger Carlo Chatrian auch vertreten, aber Hinstin hat eindeutig mehr Freude an Abwechslung und Thriller-Spannung. Die Jury unter dem Vorsitz der französischen Regisseurin Catherine Breillat honoriert dies auch gleich und vergibt am Samstag auf der Piazza Grande den Spezialpreis an «Pa-Go» des Koreaners Park Jung-bum, der einen dichten Missbrauchskrimi auf einer abgelegenen Insel gedreht hat.

Piazza: Tarantino-Gedränge und ein richtig schlechter Film

Wer den neuen Film von Quentin Tarantino auf der Piazza programmieren kann, hat eigentlich schon gewonnen: Ein Gedränge bei der Vorführung – 9300 Personen sahen «Once Upon a Time … in Hollywood» insgesamt – und ein Filmereignis, über das man vorher und nachher lange diskutieren kann. Das erste Freiluft-Programm von Lili Hinstin bot mehr Abwechslung als das ihrer Vorgänger, die Spannweite reichte vom experimentellen Flugzeugentführungsthriller («7500») bis zum überstilisierten Jugenddrama («Adoration»). Aber die Fachzeitschrift «Variety» zeichnete bei dieser Auswahl ausgerechnet den plumpen «Elle»-Verschnitt «Instinct» aus, den einzigen wirklich schlechten Film auf der Piazza. (ml)

Eine Neuerung war die Piazza-Spätschiene «Crazy Midnight». Die wurde oft verregnet, die Reihe kann man übers Branding hinaus trotzdem noch ausbauen. Dagegen war die Retrospektive «Black Light» zum schwarzen Film trotz Entdeckungen für viele Besucher zu diffus, einige hielten sie Pausengesprächen zufolge sogar für zu intellektuell. Entlang der Frage von Blackness und Minderheiten-Repräsentation ergaben sich allerdings fast von selbst Verbindungen ins Hauptprogramm, was sicher auch gewollt war.

Komplizenschaften in Locarno

Im Wettbewerb beispielsweise liess Maya Da-Rin in «A Febre» das Porträt eines indigenen Wachmanns im brasilianischen Manaus in die Fantastik kippen – mit einer solchen Präzision, dass der Film mehr verdient hätte als den Preis für den besten Darsteller. Vermutlich hat das die Tatsache verhindert, dass die zuständige Produktionsfirma, Komplizen Film, in Locarno bereits mit einem Spezialpreis geehrt wurde und mit Valeska Grisebach eine Regisseurin in der Jury sass, die ebenfalls mit Komplizen produziert hat. Bisschen viel Komplizenschaft in Locarno.

Auch der Franzose Damien Manivel schloss sich mit seiner Tanzstudie «Les enfants d'Isadora» (beste Regie) unverhofft ans Black Cinema an, am Ende eignet sich nämlich eine schwarze Zuschauerin das Solostück «Mother» von Isadora Duncan an und findet so eine Ausdrucksform für den Schmerz über den Verlust eines Kindes.

In der mit Fernsehgeld realisierten deutschen Provinzkomödie «Das freiwillige Jahr» gab es ausserdem den allerbeiläufigsten Kino-Blick auf Migranten. All das waren aber keine Korrektheits-Manifeste, sondern Filme, in denen die Reflexion über die Darstellung von Verstossenen aus der Erzählung selber entstand.

Davon konnte auch «O fim do mundo» des 1985 geborenen portugiesisch-schweizerischen Regisseurs Basil da Cunha etwas erzählen, ein Pendant zum Siegerfilm von Pedro Costa und der einzige Schweizer Film im Wettbewerb. Cunha variierte das Thema seines Erstlings «Até ver a luz» und drehte mit den Bewohnern des Lissaboner Abrissviertels Reboleira ein Wirklichkeitselendsdrama, in dem wieder kapverdisches Kreol geredet wurde und es einige Momente der Schönheit gab. Einfühlsam trotz Endzeitstimmung, doch am Ende fragte man sich, ob einem der Film etwas sagen wollte, was man schon oft gehört hatte.