Das Scheitern führt Regie
Khaled Khalifa rechnet in «Der Tod ist ein mühseliges Geschäft» wortgewaltig mit der Situation im vom Bürgerkrieg verheerten Syrien ab.

Auf Seite zwei ist Abdellatif bereits tot. Vorher hat er seinem Sohn Bulbul noch das Versprechen abgenommen, ihn von Damaskus in sein Heimatdorf Anabija zu bringen und dort zu begraben. Anabija liegt ein paar Hundert Kilometer nördlich, nach muslimischer Vorschrift muss der Tote binnen 24 Stunden unter die Erde. Das wäre zu schaffen – wenn wir nicht in Syrien wären, im Jahr 2015, als der Bürgerkrieg das Land bereits in einen blutigen Flickenteppich verwandelt hat.
Zwischen den Flicken: Checkpoints, bewacht von Vertretern des Regimes, der Freien Syrischen Armee, islamistischer Gruppen, des IS – oder einfach von Banden, die über Leben und Tod der Passierenden entscheiden. Und sich im günstigen Fall mit «Gebühren» (also Bestechungsgeld) zufriedengeben.
Selbst die Leiche wird verhaftet
Die Barschaft von Bulbul, seinem Bruder Hussain und seiner Schwester Fatima schmilzt rasch dahin. Wartezeiten häufen sich, der Verwesungsprozess schreitet fort. Da hilft auch kein Kölnischwasser mehr: «Sie atmeten den Tod ihres Vaters ein.»
Unmöglich, das Ziel rechtzeitig zu erreichen. Auch wird hier der Weg nicht zum Ziel, die gemeinsam auf engstem, stinkendem Raum verbrachten Tage führen nicht zur Annäherung der Geschwister. Nicht mal eine Prügelei kurz vor der Ankunft, ausgelöst durch die aufgestauten Aggressionen und die Ausdünstung des Kadavers, wird zur Katharsis, Erkenntnis und Umkehr. Nur zur Erschöpfung: «Nun heulten sie alle drei in dieser leeren Welt.»
Am Schluss ist der Vater unter der Erde, die Geschwister gehen auseinander, sie werden sich nicht wiedersehen. Bulbul sucht seine düstere Wohnung auf und verkriecht sich ins Bett, «eine Riesenratte, die in ihren kalten Bau zurückgekehrt ist, ein Wesen, das niemand braucht und dessen man sich ohne Mühe entledigen kann».
Willkür einer chaotischen und bösartigen Aussenwelt
Das Ende zu verraten, nimmt dem Roman nichts, denn «Der Tod ist ein mühseliges Geschäft» lebt nicht von der Spannung. Rein formal eine «road novel», liest er sich wie ein albtraumhaftes Auf-der-Stelle-Treten, ist man mit den Geschwistern und der blau anlaufenden, aufquellenden, leckenden, schliesslich von Maden übersäten Leiche in dem Minibus eingesperrt, ausgeliefert der Willkür einer chaotischen, bösartigen, absurden Aussenwelt, in der man sogar einen Toten verhaften kann. So geschieht es Bulbuls Vater, der als Regimegegner auf der Fahndungsliste mehrerer Geheimdienste steht.
Abdellatif ist dreifach belastet: familiär (sein Onkel war der hingerichtete General Dschamil), territorial (Anabija gilt als Rebellendorf) und persönlich als deklarierter Regimegegner. In seinem Wohnort S. bei Damaskus hat er an Demonstrationen teilgenommen, eine Belagerung überstanden und einen «Märtyrerfriedhof» gepflegt. Vor seinen Augen stand der Sieg über das Assad-Regime nie infrage.
Sohn Bulbul ist da viel realistischer: Die Revolution sei am Ende, das Militär des Regimes sei überlegen und werde schliesslich den Sieg davontragen, hat er dem Vater widersprochen. Dessen «Märtyrer»-Pathos klingt für ihn hohl; der Vater ist Geografielehrer, also staatlicher Angestellter, also arm. Das Gehalt reicht nur bis Monatsmitte, die Frau schält für einen Hungerlohn Gemüse. Die Mittelschicht ist kaputt.
Bruder Hussain hat schon früher mit dem Vater gebrochen: Er wollte auf grossem Fuss leben, hoffte auf Aufstieg in der Mafia, brachte es aber nie weiter als zum kleinen Dienstleister auf der untersten Hierarchiestufe. «Für ihn war es gelaufen, er war zu nichts mehr nutze.» Hussain, der mutige und törichte, Bulbul, der feige und ergebene: «Beide hatten den Kampf mit dem Leben verloren.»
Die totale Fatalität
Ein Bild, das der Autor immer wieder zitiert, ein auf einem Fluss vorbeitreibender Blumenstrauss, den man zu ergreifen versäumt hat, steht für den verpassten Moment, die nicht gewagte Liebeserklärung oder die Flucht ins Ausland. Hat etwa auch Syrien den Sieg über die Diktatur verpasst? Das ist nicht die Botschaft dieses Romans, dessen politischer Standpunkt indes klar ist, allein schon durch die rekapitulierten Untaten des Regimes. Es liegt eher eine unausweichliche Fatalität über diesem Land, das seine Kinder frisst, sodass ein natürlicher Tod, wie jener von Abdellatif, fast skandalös erscheint angesichts der grassierenden Gewalt.
Khaled Khalifa lebt nicht etwa im Exil, sondern in Damaskus. Zwar ist dieser Roman in Syrien verboten, aber im benachbarten Libanon erschienen; es erscheint fast unglaublich, dass der Autor geduldet und am Leben ist. Seine Abrechnung mit der syrischen Gegenwart geht weit über die Tatsache des Bürgerkriegs hinaus. Er benennt nicht nur Willkür und Verbrechen, sondern auch die strukturelle Gewalt der patriarchalischen Familie.
Dazu zwei Schicksale, die wie nebenbei erzählt werden, eben als «nichts Besonderes»: Eine Schwägerin war eine Woche im Gefängnis, wurde dort vergewaltigt, kam mit der Krätze nach Hause und wurde von der Familie in den Hühnerstall gesperrt. Der Bräutigam löste die Verlobung und verlangte die Brautgeschenke zurück. Und: Abdellatifs Schwester Laila zündete sich am Tag ihrer Zwangsverheiratung auf der Dachterrasse an. Der Bruder, den sie um Hilfe gebeten hatte, war zu schwach dafür.
Das Scheitern ist Programm
Bulbuls Schwester Fatima hat den falschen Mann geheiratet, Bulbul selber die richtige Frau verpasst: In Khaled Khalifas Roman führt das Scheitern Regie, in der Liebe, Familie, Politik. Da wirkt es wie eine ironische Pointe, dass den drei Geschwistern das für unmöglich Gehaltene gelingt: den letzten Wunsch des Vaters zu erfüllen.
Eine literarische Lustpartie ist diese Totenfahrt gewiss nicht. Aber eine wort- und bildgewaltige Reise durch ein Land, das uns durch die deprimierend eintönige Nachrichtenlage immer ferner rückt und in das kein Reporter so tief eindringen kann wie dieser Autor.
Khaled Khalifa: Der Tod ist ein mühseliges Geschäft. Roman. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Rowohlt, Hamburg 2018. 220 S., ca. 30 Fr.