Das neue Album von Mister MilanoDolce Vita mit bitterem Nachgeschmack
Selten hat italienische Popmusik so aufregend getönt wie auf dem neuen Album der Bieler Band. Dennoch würde in Italien niemand dafür die Jukebox anwerfen. Warum bloss?

Was ist bloss aus diesem Italien geworden? Das einstige Sehnsuchtsland hat nicht nur seine Unbeschwertheit, sondern auch das Talent verloren, den schleichenden Verfall mit Noblesse zu maskieren. Die Fussballgötter werden gerade in Polizeiautos abgeführt, die Politik verführt die Frustrierten mit post-faschistischen Fantasien, und die Hitparaden werden von unglücklich verliebten Cloud-Rappern dominiert.
Da kommt das neue Album von Mister Milano gerade recht. Nicht weil es in irgendeiner Form Trost spenden würde. Aber immerhin wattiert es die Tristesse des Heruntergekommenen mit grossen Melodien und Gefühlen aus. «I ragazzi della nebbia», die Nebel-Buben, heisst das weit und breit zauberhafteste Tonwerk, das in diesem Jahr in der Sprache Dantes eingesungen worden ist. Die Musik schlenkert so nobel zwischen Sehnsucht und Kapitulation, zwischen Melancholie, funkelnder Bontempi-Orgel-Nostalgie und trüber Heutigkeit, dass es scheint, als sei sie während der Zwischensaison in einem etwas aus der Mode gekommenen Touristenstädtchen an der Adria erfunden worden.
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Alles falsch. Sie stammt aus der Schweiz. Der Mann am Frontmikrofon nennt sich Max Usata, Sohn eines Sizilianers und einer Emmentalerin. Aufgewachsen ist er in Biel, ausgerechnet in jener Zeit, als das zuvor boomende Städtchen bankrott zu gehen drohte, weil die ansässige Uhrenindustrie den Aufstieg der Quarzuhr verschlafen hatte. Er hat also Tristesse und Zerfall früh kennen gelernt. Und er hat kürzlich ein Anschauungsjahr lang in Rom gelebt, wo er einen Einblick hinter die Fassaden dieser «kaputten Stadt und dieses zwiespältigen Landes» gewährt bekommen hat, wie er sagt.
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Die Nebelbuben, die er in seinen Texten beschreibt, waren Secondo-Kollegen, denen Max Usata in seiner Kindheit begegnete. Beim unbeschwerten Spielen in einem Bieler Aussenquartier, neben Wohnblöcken und hässlichen Eigentumshäusern, die von den Besitzern selbst entworfen worden sind.
Wir sind in den Achtzigerjahren. Die Hochkonjunktur, von der alle reden, ist nicht bis hierhin vorgedrungen. Hinter den Fassaden des scheinbar idyllischen Quartiers wird geschlagen, getrunken, geliebt, geraucht und geschändet – irgendwann wird in der Nachbarschaft ein Kinderpornoring ausgehoben. Und draussen versuchen die Kinder das Geschehen hinter den Mauern für einen unbeschwerten Mittwochnachmittag hinter sich zu lassen. «Ich wollte genau diese Stimmung in meine Texte packen», sagt Max Usata, «den Blick des Kindes, das für die Welt da draussen noch kein Wertesystem hat.»
Alfonso und die Musik
Seine eigene Jugend verlief unbeschwert. Den Clash der unterschiedlichsten Milieus empfand er als bereichernd. Und einmal im Jahr ging es mit dem rot-beigen Elettrotreno nach Italien in die Sommerferien: «Das war der stets heillos überfüllte Ferienzug der italienischen Gastarbeiter, mit Asbestsitzen, ramponierten Klappbetten und abenteuerlicher Fahrplanauslegung», erinnert sich Max Usata. Eine heile Welt war Italien schon damals nicht. Die Grosseltern waren eher rau im Umgang, doch da war das Meer, Cousin Alfonso, und da war diese Musik, die ihn irgendwann wieder einholen sollte.
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Max Usata zählt in der hiesigen Musikszene zu den verhaltensauffälligsten Figuren. Mit der Gruppe Puts Marie hat er vor zehn Jahren damit begonnen, von Biel aus die Indie-Welt zu erobern – mit abgetakeltem Eskapismus und genuscheltem Weltschmerz. Irgendwann zog er nach New York, liess sich zum Schauspieler ausbilden und erfand dort Mister Milano. Vielleicht war es ein nostalgischer Anflug, ein Besinnen auf die Kraft der italienischen Popmusik, die selbst das neblige Seeland mit heilendem Pathos zu illuminieren vermochte. So genau weiss er es selber nicht mehr.
Verstaubtes Instrumentarium
Die ersten Konzerte fanden in italienischen Bars in Brooklyn statt. Mehr als nur im Gründerstab, sondern eigentlicher Initiator der Band war der Puts-Marie-Bassist Igor Stepniewski, der öfter in New York zu Besuch war und der das ausgeklügelte musikalische Layout des Trios erschuf. Er spielt hier nicht Bass, sondern verschiedene Orgeln aus der Manufaktur der Klingenthaler Harmonikawerke, mit denen in der DDR der Siebzigerjahre noch realsozialistische Popmusik gezimmert wurde. Der zweite Antreiber war der Zürcher Schlagzeuger Lou Caramella, der die Congas und einen etwas in die Jahre gekommenen Drumcomputer bedient.
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Entstanden sind Lieder wie das wundertolle «Komodovarana», das die Geschichte einer betagten Nachbarin erzählt, deren ungelüftete Wohnung zu einem Terrarium zu mutieren drohte. Mister Milano hat ungefähr drei Stand-alone-Hitmelodien in dieses Lied gepackt. Es beginnt mit wunderbar italo-pathetischem Gefühlsgesang, gefolgt von feierlichen Orgeln, die sich hartnäckig ins Ohr wurmen. Irgendwann hat der Schmachtsänger Feierabend, und das Lied franst geheimnisvoll groovend und instrumental aus. Pop-Hit-Lehrbuchschreiber würden augenrollend abwinken und die vertanen Chancen beklagen. Egal. «Komodovarana» wird als der unperfekteste Italo-Pop-Hit des Jahres 2023 in die Geschichte eingehen.
Oder da ist der grosse Erfolgsschlager «La canzone del sole» des Cantautore Lucio Battisti. Ein Lied über Entfremdung, Liebe und dunkle Geheimnisse. Es wird in den Händen von Mister Milano zu einem schwermütigen und doch gegen die Sonne galoppierenden Schmerzensstück.
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Oder «Solo al mondo»: Ein Lied über die kleinen Kindermomente, in denen die Welt stillzustehen scheint. Hier wirbeln die Orgeln, als wollten sie die gefallenen Herbstblätter zum Fliegen bringen. Und Max Usata singt wie einer, der betrunken und übernächtigt den Liedwettbewerb von Sanremo gewinnen möchte. Obschon dieser Mister Milano ein recht unbeschwertes Verhältnis zum Kitsch pflegt, drohen seine Canzoni nie ins Süsslich-Klebrige zu kippen. Das wäre dieser Welt, diesem Biel oder diesem Italien auch schlicht nicht angemessen.
Keine Italien-Eroberung
Mister Milano erschafft Lieder, die in keine Welt passen. Dolce Vita mit bitterem Nachgeschmack, sozusagen. Niemand würde in Italien für sie die Jukebox anwerfen. Zu rumpelig das Ganze, zu eigensinnig.
«Weil in Italien zwischen dem Ultra-Kommerz und der Avantgarde eine riesige Lücke klafft, wird das Land für Mister Milano kaum zu knacken sein», sagt Max Usata zu einer möglichen Eroberung des mediterranen Nachbarlandes. «Den einen ist es zu viel Kunst, den anderen nicht experimentell genug.»
Doch genau im beschriebenen Dazwischen liegt der Zauber dieser Musik. Nirgendwo dazugehören und sich deshalb eine eigene Welt herbeisingen. Was für eine bestechende Idee!
Dachstock Reitschule, Bern, Fr, 27.10., 23 Uhr (Reitschulfest); Bad Bonn, Düdingen, Fr, 1.12.; Helsinki, Zürich, Do, 7.12.
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