Intime Momente im StadionDas Phänomen Coldplay
Die britische Popband zieht dieses Wochenende knapp 100’000 Menschen in den Zürcher Letzigrund. Dafür gibt es Gründe, die über die Musik von Coldplay hinausreichen.
Der Mann hiess Toby, wenn ich mich recht erinnere, und er arbeitete für die englische Plattenfirma EMI. Toby hielt sich wegen Iron Maiden am Open-Air unweit von Strassburg auf, wo ich ihn im Sommer 2000 kennen lernte. Sein Herz schlug aber für ganz andere Musik als für das Heavy Metal einer Iron Maiden. «Ich habe gerade diese super Band unter Vertrag genommen», berichtete Toby etwas fiebrig, nachdem die Repräsentanten der Schweizer EMI-Filiale ihn mir vorgestellt hatten. «Musikalisch liegt sie genau zwischen Radiohead und Travis und heisst Coldplay.»
Ich räumte Tobys Entdeckung keine grosse Zukunft ein, zumal es in der Velospur zwischen Radiohead und Travis kaum Platz für Trittbrettfahrer gab. Mehr Weltschmerz im oberen Gesangsregister wollte sicher niemand hören, davon war ich überzeugt. Coldplays rasanter Aufstieg zur Stadionband sollte mich natürlich bald Lügen strafen. 2005 waren Chris Martin, Jonny Buckland, Guy Berrymore und Will Champion bereits so erfolgreich, dass EMI die Veröffentlichung ihres dritten Albums «X&Y» vorziehen wollte, um den eigenen Börsenwert anzuheben.
Abgesehen von den Hits «Yellow» und «Clocks», zwei veritablen Popklassikern, konnte ich mich nur sporadisch für Coldplays Musik begeistern. Daran war Chris Martin schuld. Auf mich wirkte sein Gesang immer etwas lethargisch. Anstatt die Töne hart anzuschlagen, schlängelte sich Martin um die Melodien. Dringlichkeit klang in meinen Ohren anders. Womöglich hatte diese Schludrigkeit Konzept. Immerhin verlieh sie Coldplays Musik eine gewisse Intimität. Hätte Chris Martin eine Ballade wie «Fix You» besser intoniert, würde sie sicherlich weniger tröstlich wirken.
Mit Introspektionen begeistert man keine Sportstätten – es sei denn, man heisst Coldplay.
Tatsächlich: Egal, wie aufwendig Coldplays spätere Platten produziert waren, wie berechnend ihre Studiokollaborationen mit Beyoncé und BTS wirkten und wie ehrgeizig ihre Liveshows daherkamen: Coldplays Musik blieb immer kleiner als die Ambitionen der Bandmitglieder. Bei den meisten Stadionbands ist das anders. U2 sind ein Moloch, der neue Klänge und Einflüsse in seinen weiten Orbit zieht und dann verschlingt; Coldplay begeistern Millionen Menschen hingegen mit einer Musik, die oft so verhuscht klingt, als würde die Band am liebsten in Ruhe gelassen werden.
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Mit Introspektionen begeistert man keine Sportstätten – es sei denn, man heisst Coldplay. Und live geht diese Band ganz anders zur Sache als auf Tonträger. Das kann man im Film «A Head Full of Dreams» (2018) von Mat Whitecross beobachten: Auf der Bühne des riesigen Estadio Ciudad de La Plata wirkt Chris Martin wie ein Getriebener ohne Selbstzweifel, der für das argentinische Publikum alles tut: mit den Armen wirbeln, die Songs wie ein Conférencier an einer Silvesterfeier anzählen, ja auch die eine oder andere politisch nachvollziehbare Message in die Show einfliessen lassen. Da ist ein Meister am Werk.
Was bei Chris Martin so mühelos aussieht, ist in Wirklichkeit ein gut geplanter Kraftakt. Wer zu viel auf einer Stadionbühne herumrennt, erschöpft sich schnell, wer das Publikum zu oft aufpeitscht, kann ratlos wirken, wer mit allen Kumpel sein will, biedert sich an.
Widerstand ist zwecklos
Stadionrock bedeutet Präzisionsarbeit unter widrigen Umständen. Nicht umsonst bedienen sich Coldplay allerlei technischer Hilfsmittel – und sind dabei oft innovativ. An ihren Konzerten machen Coldplay das Publikum zum Teil der Lightshow, indem sie die Konzertgängerinnen und -gänger mit LED-Bändel ausstatten, die während des Auftritts dramaturgisch korrekt aufblinken. So wird man zum menschlichen Stroboskop.
Auch wenn niemand mehr auf neue Musik wartet, wächst Coldplays Ruf als immersiv-innovative Stadionerfahrung unaufhaltsam weiter. Und auch als Aussenstehender möchte man sehen, ob diese als Live-Attraktion gefeierte Band das hält, was sie verspricht. Wenn man den Menschen glauben darf, die Coldplay schon lange beruflich begleiten, ist auf sie Verlass: Widerstand ist zwecklos.
Toby, der Coldplay 1999 für EMI unter Vertrag genommen hatte, bin ich übrigens nie wieder begegnet. Wo auch immer er heute ist, ich hoffe, er ist stolz auf sich. Coldplay haben nicht nur Radiohead und Travis kommerziell überrundet, sie haben auch die eigene Plattenfirma überlebt. EMI existiert schon lange nicht mehr, Coldplay denken hingegen nicht ans Aufhören. Dafür gibt es auch keinen Grund.
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