Spitzensport in China«Korruption wird geduldet, harte Arbeit nicht»
China drillt seine Sportler zu Höchstform. Doch was passiert, wenn die Profikarriere plötzlich vorbei ist? Die Ex-Turnerin Wu Liufang dreht Videos in knapper Bekleidung. Sie erntet Kritik – aber auch viel Unterstützung.
Schlagartig endete im Mai 2012 Wu Liufangs grosser Traum von einer olympischen Goldmedaille: Bei einer Übung stürzte die chinesische Turnerin und verletzte sich am Hals. Ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen in London musste sie absagen, nur ein Jahr später zog sich Wu aus dem Spitzensport zurück. Seit ihrem vierten Lebensjahr hatte sie fast jeden Tag trainiert. Mit nicht einmal 20 Jahren stand die «Prinzessin des Schwebebalkens» plötzlich vor dem Nichts und verschwand aus der Öffentlichkeit. Ihr Name war schnell vergessen.
Zumindest bis vor ein paar Wochen, als die heute 30-Jährige mit Videos auf sich aufmerksam machte, in denen sie immer wieder leicht bekleidet und in verführerischen Posen vor der Kamera tanzte. Als sie eine ehemalige Sportkollegin kritisierte, wurde ihr Kanal vorübergehend gesperrt. Doch anstatt sie anzugreifen, unterstützen viele Chinesen die junge Frau. Nicht wenige erinnert sie gar an einen Fall, der in China längst tabu ist.
Mit vier Jahren begann Wu Liufang ihre Ausbildung zur Turnerin, die in China für ihre extreme Härte bekannt ist. Zehntausende Mädchen und Buben ziehen jedes Jahr in Internate fernab von ihren Familien, spezialisierte Kaderschulen, die um jeden Preis Medaillengewinner hervorbringen sollen.
Ausbildung mit Drill und Leistungsdruck
Ehemalige Turnerinnen berichten, wie sie schon als Kleinkinder gedrillt wurden, mit Trainingseinheiten ab fünf Uhr morgens, teils acht Stunden am Tag. Die Schule spielt meist keine grosse Rolle. Alte Videos von Wu Liufang zeigen ein zierliches Mädchen mit streng zurückgekämmten Haaren und dicken Verbänden um ihre Handgelenke. Mit scheinbar perfekter Präzision schwingt sie am Stufenbarren, balanciert über Schwebebalken oder schlägt Saltos. Am Ende verbeugt sie sich und strahlt; wie wirkliche Freude wirkt es weniger, eher wie eine einstudierte Show.
Tatsächlich ist die chinesische Turnausbildung von strengem Drill und Leistungsdruck begleitet. Deren Folgen: körperliche Verschleisserscheinungen, häufige Verletzungen und mentale Belastung, über die auch in anderen Ländern lange nicht gesprochen wurde. Das zeigt unter anderem das Beispiel der US-Turnerin Simone Biles.
Dass trotzdem viele Familien diesen Weg für ihr Kind wählen, hat häufig etwas mit mangelnden finanziellen Mitteln zu tun: Wus Familie etwa stammt aus der ärmlichen Region Guangxi, wo viele Schulen nur schlecht ausgestattet sind. Nur wenige Schüler schaffen es von dort an eine der Spitzenuniversitäten in Peking oder Shanghai. Der Einstieg in den Spitzensport verspricht hingegen Aufstiegschancen.
75’000 Franken für olympische Medaillen
Für die chinesische Regierung ist die Anzahl der gewonnenen Goldmedaillen ein Symbol für die nationale Stärke Chinas, deshalb investiert sie Milliarden Yuan in Trainingszentren und Teams. Erfolgreiche Athleten erhalten staatliche Stipendien und finanzielle Belohnungen. Die Turmspringerin Chang Yani wurde mit 75’000 Franken als Preisgeld für ihre olympische Gold- und Bronzemedaille dieses Jahr in Paris belohnt, die Synchronschwimmerinnen Xiao Yanning und Xiang Fenxuan mit jeweils knapp 50’000 Franken.
Besonders erfolgreiche Sportler können zudem darauf hoffen, nach ihrer Sportkarriere als Trainer oder Funktionäre in der Sportindustrie zu arbeiten. Das ist zumindest das Versprechen.
Dass die Realität deutlich komplizierter ist, zeigt der Fall von Wu Liufang. Sie war vor ihrer Verletzung ein Sportstar, nach ihrem Rückzug musste sie sich schnell umorientieren. Zunächst studierte Wu an der Pekinger Sport-Universität, später arbeitete sie als Sportlehrerin. Doch mehrmals zahlten ihre Arbeitgeber ihr Gehalt nicht aus. Ein Phänomen, das in China nicht unüblich ist und mit den wachsenden Wirtschaftsproblemen sogar noch zugenommen hat. Proteste wegen unbezahlter Löhne gehören zum Alltag, häufig gehen die Arbeiter leer aus.
Auftritt im Grenzbereich
Als Wu eine Stelle als Trainerin an einer Sportschule in Hangzhou in Ostchina bekam, wurde ihr gar eine Festanstellung versprochen, die dann aber nie zustande kam. 2019 beginnt sie als Livestreamerin zu arbeiten, eine Milliardenindustrie in China. Aber auch hier begann sie wieder ganz unten. Ihr Anfangslohn: umgerechnet etwa 350 Franken im Monat für sechs Stunden Liveaufnahmen am Tag. So viel verdienen manche Kellner in Restaurants oder Reinigungskräfte.
Wu hat auf gewisse Weise Glück gehabt, viele ihrer früheren Sportkolleginnen haben durch die rigorose Ausbildung permanente Verletzungen erlitten, Hüftschäden, Lähmungen oder chronische Schmerzen. Doch der erhoffte Aufstieg hat sich auch für sie nicht erfüllt. In einem Livestream sagte Wu kürzlich: «Meine Familie war nicht wohlhabend, und ich habe meine ganze Jugend dem Turnen gewidmet.» Aber den Höhepunkt, einen Olympia-Sieg, habe sie nie erreicht. «Ich bin auf mich selbst angewiesen.»
In den Videos, die nun für Ärger sorgen, trägt sie enge Tops, ultrakurze Hosen und Kniestrümpfe, meist räkelt sie sich vor der Kamera und wirft den Zuschauern verführerische Blicke zu – ein Grenzbereich im chinesischen Internet zwischen zulässigen Inhalten und solchen, die den Zensoren zu freizügig sind.
Viele Chinesen scheinen sich in Wu wiederzufinden
Teilweise trägt Wu aber auch Sportanzüge des chinesischen Nationalteams und zeigt gewonnene Medaillen. Einige Tausend Follower hatte sie, bis eine frühere Sportkollegin auf sie aufmerksam wurde: Guan Chenchen, selbst mehrfache Olympia-Gewinnerin. Sie nannte die Videos «respektlos» und warf Wu vor, den Ruf des chinesischen Turnens zu beschädigen. Eltern könnten sie zudem sehen und aufhören, ihre Kinder zum Training zu schicken, weil sie den Eindruck bekommen, dass sie keine Zukunft haben.
Wu antwortete, Guan sei nur neidisch, woran sich ein Schlagabtausch mit gegenseitigen Gemeinheiten anschloss. Kurz darauf sperrten die Zensoren Wus Account. Als er einige Tage später wieder aktiviert wurde, kletterte ihre Followerzahl in nur wenigen Tagen auf mehr als sechs Millionen.
Tatsächlich schienen sich viele Chinesen in den Schwierigkeiten der jungen Frau wiederzufinden. Seit Corona hat sich die Wirtschaftslage im Land enorm verschlechtert, viele junge Leute finden keine Anstellung mehr. Selbst Uniabsolventen müssen sich mit prekären Jobs und Praktika über Wasser halten. Fast jeder kennt Firmen wie die, mit der Wu anscheinend zu tun hatte: die schlecht oder gar nicht zahlen und die Not junger Leute ausnutzen. «Sie arbeitet hart», kommentierte einer. Ein anderer: «Sie geht ihren eigenen Weg, lasst die Leute doch reden!»
Manche schrieben auch, dass Wu immerhin nicht gegen das Gesetz verstosse, und spielten damit auf den Fall von Peng Shuai an. Die weltweit bekannte Tennisspielerin hatte im Jahr 2021 auf der Plattform Weibo dem ehemaligen chinesischen Vizepremier Zhang Gaoli vorgeworfen, sie sexuell missbraucht zu haben. Doch anstelle von Untersuchungen gegen Zhang wurde ihr Beitrag gelöscht, und Peng Shuai verschwand für einige Wochen. Manche kommentierten mit Blick auf Wu: Korruption und Machtmissbrauch werde geduldet, «die harte Arbeit von Leuten ohne Privilegien» nicht.
Nach der jüngsten Kontroverse wurden viele Accounts, die ihr neu folgten, gelöscht. Wu, die eigentlich zweimal am Tag Videos veröffentlichen sollte, hat seit einiger Zeit nichts mehr gepostet. Die Gründe dafür sind unklar.
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