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Biopic über Joan Baez
Die Bilanz des Blumen­kindes

Sie wurde zur Stimme ihrer Generation – und zum Inbegriff der Protestsängerin: Joan Baez als Teenager in Kalifornien, aufgenommen von ihrem Vater.
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Sie sei die richtige Stimme zum richtigen Zeitpunkt gewesen, heisst es im Film, und tatsächlich war ihr heller, weit hinaufreichender Sopran perfekter Ausdruck der Sehnsüchte ihrer Zeit: nach Reinheit und Klarheit, einer besseren Welt. Der Vietnamkrieg spaltete gerade Amerika, Martin Luther Kings «I have a dream» erreichte Hunderttausende.

Mittendrin die junge Joan Baez, die aussah wie ein Blumenkind, mit langen Haaren, natürlich wirkend selbst auf der Bühne, heute würde man ihre Ausstrahlung «authentisch» nennen. So sang sie gegen den Krieg und für die Gleichheit aller Menschen, egal welcher Hautfarbe, und wurde zur Stimme ihrer Generation – und zum Inbegriff der Protestsängerin.

Das öffentliche und das private Leben – und das geheime

Karen O’Connor ist seit vielen Jahren mit Joan Baez befreundet, mit Miri Navasky und Maeve O’Boyle schuf sie eine Doku, in der die Sängerin frappierend offen auf ihr Leben – auf und jenseits der Bühne – zurückblickt. Der Film beginnt konventionell, begleitet die fast 80-jährige Sängerin bei den Vorbereitungen für ihre Abschiedstournee. Baez ist beim Stimmtraining zu erleben (ihre Stimme ist älter, rauer geworden, aber noch immer bemerkenswert), später sind Ausschnitte ihrer Auftritte zu sehen und Momente im Tourbus.

Sehr bald aber ist klar, dass diese Doku tiefer zielt: Jeder habe drei Leben, zitiert der Film den Schriftsteller Gabriel García Márquez: das öffentliche, das private und das geheime.

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Eine Stimme aus dem Off ist zu hören, es sind Tonbandaufnahmen der tiefenpsychologischen Therapie, die Joan Baez über Jahre gemacht hat. Zu sehen sind Homemovies aus Joans Kindheit und durch Animation in Bewegung versetzte Zeichnungen der Künstlerin. Zeiten und Lebensebenen fliessen ineinander, die Montage entwickelt einen Sog, wirkt manchmal fast surreal, hypnotisch – und führt am Ende des Films tatsächlich zu etwas Ungeheuerlichem.

In ihren Tagebüchern spricht aber schon die 13-jährige Joan davon, dass sie ein winziger Punkt im Universum sei, der im Bewusstsein seiner Bedeutungslosigkeit seine Bestimmung darin sieht, sich um Punkte zu kümmern, denen es schlechter geht (eine fast schon bestürzend ethische Haltung der Quäker-Tochter, die den Aktivismus späterer Jahre vorwegzunehmen scheint). In ihrem Tagebuch schreibt die Jugendliche dann über Panikattacken: «Ich war in Therapie, seit ich 16 war.» Gezeichnet hat sie immer wieder ein gefährdetes, manchmal regelrecht verschwindendes Ich.

Joan Baez demonstriert an der Seite von James Baldwin.

Diese intimen Einblicke werden mit den Stationen einer beispiellosen Sängerinnenkarriere verknüpft: Joan Baez’ frühem Erfolg, ihren Liebes- und Musikbeziehungen unter anderem zum jungen «Bobby» Dylan, den sie förderte und der ihr später das Herz brach. Dazu immer wieder ihre grossartige Musik.

In einem (gar nicht kleinen) Raum bewahrt Joan Baez die Tagebücher auf, aus denen der Film zitiert, auch die Zeichnungen und Tonbänder mit den Aufzeichnungen ihrer Therapiesitzungen. Es ist das Archiv ihrer Eltern und die schiere Menge an Material ist erschütternd, zeigt das Ausmass der meist quälenden Selbstbefragungen der Künstlerin, im Film ist nur ein Bruchteil davon zu sehen. Der Raum selbst erscheint wie eine Blackbox, die Baez über Jahrzehnte hinweg ausgeleuchtet hat, in dessen finsterster Ecke sie den Grund für ihre Ängste, ihre Depressionen, ihren Schmerz gefunden hat.

Baez’ Eltern haben den Missbrauch immer bestritten

In dieser Doku berichtet Joan Baez erstmals öffentlich davon, dass ihr Vater sie missbraucht habe. Eine verstörende Enthüllung, die Teile ihrer Biografie, sogar ihre Musik in einem nochmals anderen Licht erscheinen lassen.

Neu ist das allerdings nur für die Öffentlichkeit. In der Familie gab es lange, schmerzhafte Prozesse der Aufarbeitung, die im Film auch thematisiert werden – Baez’ Eltern haben den Missbrauch immer bestritten. Der Film zitiert aus dem Tagebuch der Mutter, in dem sie vom «False Memory Syndrome» schreibt, und die Stimme des Vaters ist zu hören, der (bei einer Therapiesitzung?) sagt, er wisse nicht, was man ihm vorwerfe. Auch der Film kann nichts beweisen, vieles bleibt notgedrungen ungeklärt. Schwer wiegt der Missbrauchsvorwurf trotzdem.

Der heute 82-jährigen Baez ist klar, dass ihr Vater und ihre Mutter nicht auf die Suche gehen wollten – nach den Dämonen, mit denen sie ein Leben lang kämpfte. Der Film zeigt sie heute als eine selbstbewusste, charismatische Frau mit neuer Freiheit: We shall overcome.

«Joan Baez – I Am a Noise», USA 2023. Kinostart: 28. Dezember.