Kommentar zum Fall Sebastian V.Bei den Ärzten schauen die Behörden einfach weg
Bei Restaurants gibt es flächendeckend unangemeldete Visiten – Ärzte dagegen werden kaum kontrolliert. Warum eigentlich?
Vor vier Jahren erhielten die Behörden die erste Warnung über die von Chirurg Sebastian V. geführte Privatklinik Futuremed im Zürcher Seefeld. Bei der Schweizer Heilmittelbehörde Swissmedic, aber auch beim Zürcher Gesundheitsdepartement gingen in der Folge mehrere Beschwerden ein. Betroffene informierten auch die Strafverfolgungsbehörden.
Sebastian V. werden finanzielle Missstände, fehlende Hilfe nach Komplikationen bei Eingriffen oder auch Zelltherapien ohne Bewilligung vorgeworfen. Er bestreitet die Vorwürfe vehement.
Obwohl Hinweisgebende Mut fassten und Ämter informierten, konnte der Arzt über Jahre praktisch unbehelligt weitermachen. Der Fall blieb liegen. Dann begann das Tamedia-Team zu recherchieren und über Monate rundherum Fragen zu stellen. Patientinnen und Patienten sowie andere Personen, die sich geschädigt fühlen, getrauten sich, ihre Geschichte zu erzählen.
Und plötzlich gibt es eine starke Reaktion der Behörden. Swissmedic bestätigt, ein Strafverfahren zu führen, das Zürcher Gesundheitsdepartement prüft mittlerweile den Entzug der Berufsbewilligung. Und die Zürcher Staatsanwaltschaft bestätigt Ermittlungen.
Damit ist noch lange nicht bewiesen, dass der Arzt Recht verletzt hat. Für ihn gilt die Unschuldsvermutung. Doch endlich wird hingeschaut. Endlich dürfen Patientinnen, die sich schlecht behandelt fühlten, Kunden, denen womöglich statt Stammzellen bloss eine unbekannte Lösung gespritzt wurde, oder Personen, denen der Arzt viel Geld schuldet, darauf hoffen, dass die Behörden die Sache ernst nehmen, dass der Fall minutiös abgeklärt wird.
Zurückhaltung schadet der Branche
Das sendet ein starkes Signal. Denn in den verschiedensten Ärzte-Skandalen der letzten Jahre berichteten Patientinnen und Patienten gegenüber dieser Zeitung regelmässig davon, dass sie sich hilflos fühlten, keine Chance sähen, sich gegen einen Arzt (Ärztinnen kommen selten in solchen Affären vor) zu wehren. Weil weder Behörden mit Biss gegen fehlbare Mediziner vorgingen noch Ärzte je gegen andere aussagen würden.
Diese Zurückhaltung schadet der ganzen Branche. Denn dadurch schwindet das Vertrauen in alle Medizinerinnen und Mediziner, die überwiegend einen herausragenden, wichtigen und engagierten Job machen.
Die Behörden müssen die schwarzen Schafe herauspicken, bevor diese grösseren Schaden anrichten. Und deshalb die Frage: Warum gibt es eigentlich ausgerechnet in diesem hochsensiblen Bereich nur selten behördliche Kontrollen bei Ärztinnen und Ärzten?
«Wie oft wurde von den Behörden 2020 eine Privatklinik oder eine medizinische Praxis ohne Vorwarnung besucht?»
Über 15’000 Bauernhöfe werden jedes Jahr darauf kontrolliert, ob sie das Tierwohl einhalten. Und in der Gastronomie gab es im letzten Jahr über 20’000 unangemeldete Inspektionen. Die Kontrolleurinnen und Kontrolleure prüften haargenau, ob die Hygiene eingehalten wird und generell höchste Professionalität gewährleistet ist.
Doch wie oft wurde von den Behörden 2020 eine Privatklinik oder eine medizinische Praxis ohne Vorwarnung besucht? Wann haben Kantonsärztinnen oder Kantonsärzte – oder ihr Personal – im Internet nach unerlaubten medizinischen Therapien gesucht und bei den Doktoren, die das anbieten, die Krankenakten angeschaut? Die Zahl dürfte klein sein, schweizweite Daten sind jedenfalls nicht verfügbar.
Es muss im Interesse der Vereinigung der Ärztinnen und Ärzte (FMH) und der Politik sein, gegen den Vertrauensschwund, den die immer neuen Affären verursachen, anzugehen. Nach dem Skandal um die Herzklinik am Zürcher Unispital hat die Politik reagiert und Reformen auf den Weg gebracht. Nun müssen Politiker und Politikerinnen aber auch dafür sorgen, dass die Behörden die Ressourcen erhalten, um nicht nur Beizern oder Bäuerinnen, sondern auch den Göttern in Weiss auf die Finger zu schauen.
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