Neues Buch des Bestseller-AutorsEs ist Paul Austers vielleicht letzter Roman – und er ergreift
Der New Yorker hat mit «Baumgartner» einen wunderbaren Roman über Verlust, Altern und den Umgang mit Erinnerung geschrieben. Und über den Phantomschmerz der Liebe.

Vielleicht wird es sein letztes Buch sein: Vor kurzem hat der Philosophie-Professor Sy Baumgartner das Manuskript für sein eher experimentelles Werk «Rätsel des Steuers» abgegeben, aber jetzt befindet sich der rund 70-Jährige mit blutendem Kopf, leicht verwirrt, nach einem – genau! – etwas rätselhaften Autounfall irgendwo in der Pampa. «Im dämmrigen Winterlicht» klopft er an die Tür eines Fremden. «Und so beginnt das letzte Kapitel der Saga von S. T. Baumgartner», resümiert der auktoriale Erzähler in «Baumgartner», der sich ab und an in die Geschichte über den alternden Mann einschaltet.
Besagte Saga wurde davor auf 200 Seiten entfaltet – auf eine Weise, die mitten ins Herz des Helden hineinführt; und in das unsere. Anders gesagt: Der zwanzigste Roman von Paul Auster, «Baumgartner», ist, als wär er kein Stück von ihm: nämlich anrührend und auf ansteckende Art angekränkelt von der Allgegenwärtigkeit des Todes. Das Buch fasst uns an mit seinen kurzen, anschaulichen Storys aus einem langen, bewegten Leben, seinen Splittern aus Tagebüchern und sonstigen Texten, all diesen pulsierenden Souvenirs aus Buchstaben. Auster erlaubt sich und uns mehr Nähe.
Ein roher Schmerz
Im vorhergehenden Roman, dem monumentalen, 1200 Seiten starken «4321» (2017), stirbt sein Alter Ego zwar gleich mehrfach. Aber dort kultiviert der preisgekrönte New Yorker Romancier noch mit Lust sein Markenzeichen, sprich: seinen postmodernen, metafiktionalen Modus operandi, der Distanz und intellektuelles Amüsement generiert bis in die letzte heruntergebetete Schallplattenliste.
In «Baumgartner» hingegen bricht sich durch alle literarischen Spiele und Spiegeleien hindurch ein roher Schmerz. Ja, der Roman fühlt sich an, als könnte er Paul Austers letztes Buch sein. Tatsächlich hat der 76-jährige Schriftsteller auch selbst jüngst darüber spekuliert, dass «Baumgartner», angesichts seiner angeschlagenen Gesundheit, sein letztes Werk sein könnte.
Uns Lesenden vergeht die Zeit wie im Flug.
Bereits bei der Lektüre der ersten Seiten wird man von wildem Mitgefühl für den einsamen Geistesarbeiter aus Princeton erfüllt, der von einem Missgeschick ins nächste stolpert wie ein trauriger Harlekin und der sich, nicht ohne Grund, vor Demenz fürchtet.
Er vergisst den Topf auf der heissen Herdplatte, die Stufenlänge der morschen Kellertreppe und den Anruf an die neiderfüllte Schwester. Jede Kleinigkeit stösst den Hilflosen in eine Flut von Erinnerungen: in einen mitreissenden – und hinreissenden – Stream of Consciousness. Und schon ist der Vormittag verflossen, und auch uns Lesenden vergeht die Zeit wie im Flug.
Mit der geliebten Anna versank alles, was die Welt liebenswert gemacht hatte.
Der Roman beginnt im April 2018; zehn Jahre zuvor starb Baumgartners geliebte Frau mit 58 Jahren, als sie sich am Strand übermütig in die Wellen stürzte – und mit ihr versank alles, was seine Welt liebenswert gemacht hatte. Sie hiess Anna Blume, und natürlich dürfen Sie da an Kurt Schwitters gleichnamiges dadaistisches Liebesgedicht denken. Klar, dass Baumgartners Anna Blume ihrerseits ein Liebesgedicht geschrieben hat, in dem eine rote Blume vorkommt – und das im Roman vollständig zitiert wird.
Die Postbotin wiederum, die dem Professor immer seine ohne Sinn und Zweck bestellten Buchpäckchen bringt, hat Annas «leuchtende Persönlichkeit» und heisst Molly; der Nachname der James Joyce’schen Figur, Bloom, darf im Kopf ergänzt werden. Baumgartners Putzfrau schliesslich heisst Mrs. Flores – noch Fragen? Nur Baumgartners zeitweilige Geliebte bringt die leuchtende Facette ihres Charakters nicht im blumigen Namen zum Ausdruck: Sie heisst Judith Feuer.
Der Sound ist anders als sonst
Richtig, solche Jonglagen sind Paul Auster pur – Kunststücke aus literaturgeschichtlich verschachtelten Aufhübschungen und unübersehbaren Verweisen auf autobiografische Realitäten. Baumgartner vergräbt sich in den Nachlass seiner Frau. Und was ihr Tagebuch und seine eigenen Erinnerungen ans Licht befördern, besitzt über weite Strecken grosse Ähnlichkeiten mit Paul Austers Beziehung zu seiner ersten Frau, der Autorin Lydia Davis, etwa die Zeit in Frankreich. Auch Austers Vorfahren und seine Reise in die Heimat seines jüdischen Grossvaters väterlicherseits in der Ukraine werden im Roman aufgegriffen. Dennoch: Der Sound ist anders als sonst.
Fast habe er das Buch «Phantom Limb» betitelt nach dem Phantomschmerz, den man beim Verlust eines Körperteils empfindet – beziehungsweise nach der Phantomverbindung, die man zu seinen Lieben verspüre, selbst wenn sie nicht mehr am Leben seien, berichtete Auster in einem Interview. Und über diesen Phantomschmerz reflektiert auch Sy Baumgartner.
Schwere Schicksalsschläge haben Lydia Davis und Paul Auster in den letzten Jahren verkraften müssen: 2022 starb der gemeinsame Sohn, Daniel Auster, an einer Drogen-Überdosis – ein paar Tage nachdem er wegen des Tods seiner eigenen 10-monatigen Tochter (im November 2021) angeklagt worden war. Im März dieses Jahres gab Austers Frau Siri Hustvedt bekannt, dass ihr Mann an einer Krebserkrankung leidet – sie wurde spät diagnostiziert. Sie seien jetzt im «Cancerland», im Krebsland.
«Das Leben ist gefährlich, und jedem von uns kann jeden Augenblick etwas zustossen», erklärte Baumgartner einst seiner unfähigen Trauerbegleiterin. «Sie wissen das, ich weiss das, jeder weiss das – und wer es nicht weiss, tja, der hat nicht richtig hingesehen, und wer nicht richtig hinsieht, geht am Leben vorbei.» Dieser Spruch ist eines dieser gerade lässig hingeworfenen aufstrahlenden Kleinode, von denen sich so viele in dem Roman finden.
Intellektuelle Spassvögel
«Baumgartner» erzählt vom allmählichen Verfertigen der Erinnerung beim Nachdenken, vom unbewussten Filtern der flottierenden Vergangenheitsfetzen. Dabei stellt er durchgehend die Frage danach, was zählt angesichts des klassischen Diktums Mors certa, hora incerta (der Tod ist gewiss, ungewiss ist die Todesstunde). Ist es überhaupt sinnvoll, nach dem Sinn des Lebens zu suchen, wenn alles zufällig oder fremdbestimmt erscheint? Darüber philosophiert der Phänomenologie-Professor denn auch in «Rätsel des Steuers».
Zugegeben, die Passagen über dieses satirisch-verkopfte Büchlein des Geisteswissenschaftlers sind das Schwächste an dem Roman. Baumgartner befasst sich in der «hakenschlagenden, pseudophilosophischen Abhandlung im Geiste von Swift, Kierkegaard und anderen intellektuellen Spassvögeln, die die Welt auf den Kopf stellen» mit dem «Auto als Mensch, dem Menschen als Auto, eins mit dem anderen austauschbar». Aber wenn wir den alten Mann am Ende ins Caspar David Friedrich’sche Abenddämmerlicht wanken sehen, sein Auto fahrunfähig und er auch, dann ist es, als stünden wir an seiner Seite und reichten einander die Hand.
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