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Meinung

Analyse zur Protestwelle in Serbien
Vucic kann diesen Volksaufstand nicht ignorieren

Tausende von Demonstranten in Belgrad halten ihre Handys in die Luft, um den Nachthimmel zu erhellen, bei einem grossen Protest gegen Korruption am 15. März 2025. Die Menschenmenge versammelt sich nach dem Dach-Einsturz in Novi Sad.
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Am Ende des Tages, nachdem Hunderttausende auf den Strassen und Plätzen Belgrads gegen ihn protestiert hatten, trat Aleksandar Vucic vor die Medien und goss Öl ins Feuer. Ohne irgendwelche Beweise vorzulegen, behauptete der serbische Präsident, dass viele Teilnehmer der vielleicht grössten Demonstration in der Geschichte Serbiens betrunken gewesen seien.

In dramatischem Ton erklärte er faktenfrei, die Sicherheitskräfte hätten in Belgrad Waffen gefunden. Er warf der Opposition vor, die Studierenden zu manipulieren, und griff regierungskritische Medien frontal an. So spricht kein Staatsmann, so spricht jemand, der die Zeichen der Zeit in Serbien nicht erkannt hat.

Der Zorn der Bürger wird nicht erlöschen

Vucic kann diesen Volksaufstand nicht ignorieren. Macht er das weiterhin, wird er sein Land ins Chaos stürzen. Auch wenn die regimetreuen Boulevardzeitungen bereits am Samstagabend den Sieg des «Grossmeisters» Vucic über die angeblich gewaltbereite Opposition verkündeten, wird der Zorn der Bürger nicht erlöschen.

Der serbische Präsident Aleksandar Vučić spricht bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ungarischen Premierminister in Budapest, im Hintergrund sind serbische Flaggen zu sehen.

Seit fast fünf Monaten protestieren Studenten, Bauern, Universitätsprofessoren und Lehrer im ganzen Land gegen Korruption, Machtmissbrauch und die Zerstörung wichtiger staatlicher Institutionen. Sie sind überzeugt, dass das Regime die Schuld für den Tod von 15 Menschen nach dem Einsturz eines Bahnhofsvordachs in der Stadt Novi Sad am 1. November trägt. Und für viele andere Skandale, etwa die engen Verbindungen der regierenden Kaste zur organisierten Kriminalität.

Vucic will die Proteste aussitzen

Zuerst versuchten die Machthaber, die Wahrheit über das Unglück zu verschleiern, dann versprachen sie, die Umstände schnell aufzuklären. Passiert ist seither nicht viel, man will die Proteste aussitzen. Mittlerweile glaubt kaum jemand an eine Staatsmacht, die allmählich jede Glaubwürdigkeit und Legitimität verliert. Die «Financial Times» zitiert eine interne Meinungsumfrage der Regierung, wonach fast 60 Prozent der Bevölkerung hinter den Studenten stehen. Im Gegensatz dazu hat nur noch ein Viertel der Befragten Vertrauen in die Parolen von Vucic.

Ein Ende der Protestwelle ist nicht in Sicht, solange der Präsident nicht Hand zu einer politischen Lösung bietet. Es reicht nicht, wenn Vucic sagt, die Botschaft des Volkes sei verstanden worden und: «Wir werden uns ändern müssen.»

Anti-Aufruhr-Polizei sperrt den Bereich in der Nähe des Parlamentsgebäudes während einer grossen Kundgebung gegen Präsident Aleksandar Vucic und seine Regierung in Belgrad, Serbien, ab, am 15. März 2025.

Ein Ausweg aus der grössten politischen Krise, die Serbien seit der Machtübernahme von Vucic vor mehr als einem Jahrzehnt erfasst hat, wäre die Bildung einer Übergangsregierung aus Experten und unabhängigen Persönlichkeiten, die innerhalb eines Jahres freie Wahlen vorbereitet. Doch Vucic zeigt keine Einsicht. «Solange ich lebe, werde ich keine Übergangsregierung akzeptieren», drohte er am Samstagabend. Wahlen, die nur der Autokrat organisiert, werden nicht frei sein. Vucic wird sie manipulieren, wie er es in der Vergangenheit getan hat.

Angriff mit Schallkanonen

Am Samstag versuchte er, Spannungen durch seine maskierten Hooligans zu schüren, die die Studierenden mit Steinen und Flaschen angriffen. Um Panik zu verbreiten, wurden die Protestierenden offenbar mit Schallkanonen akustisch attackiert. Doch die Menschen lassen sich nicht mehr einschüchtern. Sie haben die Angst überwunden.

«Wir sind hier, weil wir zu lange gelitten haben, aber das werden wir nicht länger tun», sagte eine Studentin vor der schier endlosen Masse in der serbischen Hauptstadt. Eine andere rief in die Menge: «Die Nacht ist am dunkelsten vor der Morgendämmerung.» Und eine dritte Studentin stellte klar, dass «nicht der Einzelne der Staat ist. Wir sind der Staat.» Der Einzelne ist der Alleinherrscher Vucic.

Die Studierenden nehmen ihn nicht mehr ernst. Sie wollen nicht in seine Falle tappen und sich auf einen Pseudo-Dialog mit ihm einlassen. Als Präsident hat er laut Verfassung mehr oder weniger repräsentative Aufgaben. Doch er hat mit einem engen Zirkel von Günstlingen den Staat gekapert und ein auf sich selbst zugeschnittenes Machtsystem aufgebaut.

Der serbische Frühling hat gerade begonnen

Die Forderungen der Demonstranten sind auf den ersten Blick profan. Sie wollen eine effiziente Verwaltung, eine funktionierende Justiz und öffentlich-rechtliche Medien, die fair und frei berichten. Wenn Vucic das zulässt, wird seine Machtpyramide sehr schnell in sich zusammenfallen.

Es ist zu befürchten, dass er sich bis zum bitteren Ende an die Macht klammern und das altbekannte Mantra von der ausländischen Verschwörung gegen Serbien wiederholen wird. Damit verspielt er die Zukunft vor allem der serbischen Jugend. Jedes Jahr verlassen Tausende, meist gut qualifizierte Menschen, das Land. Diejenigen, die geblieben sind, wollen nun das Volk aus politischer Lethargie, Frustration und extremer Polarisierung befreien. Der serbische Frühling hat gerade begonnen.