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Neues Album von Metallica
Als müssten sie einen Laden liebeskranker Biker bei Laune halten

Rostige Dornenkönige, die die Dunkelheit beschwören: «72 Seasons» von der Band Metallica.
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Wenn man heute als Journalist ein neues Album von Metallica hören will, bevor es veröffentlicht wird, läuft das ab wie ein Treffen mit Open-AI-Whistleblowern oder der russischen Opposition. Die neue Musik der grössten, härtesten und zugleich lustigsten Mainstream-Rockband der Welt wird in den Wochen vor dem Verkaufsstart wie Gefahrgut behandelt. Die deutschen Marketingleute müssen in der US-Zentrale einen Stream beantragen. Dieser wird für begrenzte Zeit freigeschaltet und verschwindet dann wieder.

Man wird als Berichterstatter dann eingeladen, sich beim Abspielen des Streams von «72 Seasons» dazuzusetzen, in einem fensterlosen, weinrot ausgekleideten, suggestiv beleuchteten Raum. An der Wand steht ein Craft-Beer-Kühlschrank, aber natürlich trinkt man nichts. Denn man muss gut aufpassen.

Fast 80 Minuten dauert die Platte, und nur wer schnell genug ist, schafft es, beim Song «Room of Mirrors» alle Reimwörter mitzunotieren, die auf «-ize» enden: «Would you criticize, scrutinize, stigmatize my pain?», fragt Sänger, Gitarrist und Textautor James Hetfield raffzähnig im Refrain. Kritisieren, prüfen, stigmatisieren, danach kommen noch, kein Scherz: summarize, patronize, ostracize, analyse. Ächten, analysieren, bevormunden bis zum Abwinken. Beziehungsweise: bis der Arzt kommt.

Die Definition von Thrash Metal

Früher erzählten Heavy-Metal-Stücke vor allem über das Schächten von Kampfgegnern, das Glück des unerwarteten Oralverkehrs und ab und zu davon, dass der verdammte Rock’n’Roll der König der Welt sei. Metallica aber singen heute so, wie damals maximal Psychotherapeuten sprachen. Und bevor gleich wieder wer spottet: Das ist schon ganz gut so.

Der Titel «72 Seasons», das erklärte die Band vorab, beziehe sich auf die ersten achtzehn Lebensjahre des Menschen und die Definitionsmacht, die diese Phase für die Charakterbildung und spätere Krisenpotenziale habe. Dem akademischen Stand entspricht das zwar nicht ganz, aber das Coverbild zeigt, wie sie es meinen: Man sieht die Zeichnung eines leeren Kinderbetts mit zerborstenem Gitter. Hier ist entweder jemand triumphal der Dummheit und Fremdbestimmung entkommen. Oder man liest es als Menetekel, als Warnung: Ein traumatisiertes Untier ist los.

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Der besagte Song «Room of Mirrors» galoppiert dann auch einher, als wäre er vor irgendwas auf der Flucht. Es ist der schnelle, hoppelnde Beat, der untrainierte Headbanger nach kurzer Zeit das eigene Hirn spüren lässt: Es juckt, aber man kann sich nicht kratzen. Man kennt und liebt dieses Gefühl vom Thrash Metal, dem Jazz des Heavy Rock, den Metallica in ihren Anfängen in jungrebellischer Hochklasse spielten.

Das grösste Problem an neuer Metallica-Musik ist ja jedes Mal, dass sie vom Start weg so vielen unterschiedlichen Leuten gehört. Auf der einen Seite: die harten Fans, die genau wissen wollen, wie dieses Mal das Mischungsverhältnis ausfällt. Wie viel Thrash-Urgulasch in der Legierung steckt, wie viel Stadion-MTV-Rock (schwarzes Album von 1991), Ärmelkrempel-Metal («Load» von 1996) und blanke Peinlichkeiten (fehlende Bassgitarren, Schlagzeug mit Hundenapf-Sound, Musicals mit Lou Reed).

Eigentlich warten immer noch viele auf einen Hit wie «Enter Sandman»

Nachdem in der Nacht auf Karfreitag, dem Tag des messianischen Leidens, dann plötzlich doch noch ein Vorab-Link zum Album verschickt worden ist, wollen wir die Frage schnell aus dem Weg räumen: «72 Seasons» hat deutlich mehr Stampf-Metal in mittlerem Tempo als Thrash-Blitzregen. Die Platte walzt mehr, als dass sie splittert. An einigen Stellen singen Hetfield und Bassist Robert Trujillo in Doppelharmonien, als müssten sie einen Schuppen liebeskranker Biker bei Laune halten. Und ja, es wird zwischendurch reichlich monoton. Wenn es um die Frage geht, was die Band Metallica mit dem ganzen Klang-, Groll- und Wah-Wah-Material anfangen soll, das in ihrem grossen Griessbreitopf vor sich hin blubbert, setzt sie heute mehr auf Hypnose und Beschwörung. Weniger aufs Anstacheln.

Die anderen, die Anspruch auf dieses Album erheben werden, sind wie immer die eigentliche Mehrheit – in dem Fall die Rock-’n’-Roll-Schläfer. Das ist die Millionenquote aus distanziert faszinierten Normalos, die ihre Tickets für die Tour gleich bestellt haben, weil sie sich den einen, kleinen Metallica-Spass halt noch gönnen. Und die immer noch auf einen neuen Hit à la «Enter Sandman» warten, den sie auch dieses Mal nicht kriegen.

Wenn die Dunkelheit ein Handtäschchen hätte, «72 Seasons» würde genau hineinpassen.

Anders als etwa bei Iron Maiden oder Judas Priest gab es bei Metallica kaum mal irgendwelche Schreckgespenster oder Sumpftiere. Denn eines wussten sie schon in ihren verschallertsten Jahren – und davon handelt dieses neue Album mit erstaunlichster, nervender Konsequenz: Die therapieresistenten Monster, das sind natürlich wir selbst. Homo homini monstrum. Bizarrerweise lieben wir die Schmerzen, die wir uns selbst zufügen, oft viel zu sehr, um sie wirklich loslassen zu wollen.

Keine andere Musik erzählt von diesem Dilemma, dieser Verdammnis so verzehrend unmittelbar wie Heavy Metal. Und kein anderes Metallica-Album hat sich bisher so intensiv um die quälende, grässliche Frage gedreht, welche Erkenntnisse man gut gebrauchen könnte, um hier vielleicht rauszukommen. Wie viel man summieren, analysieren und partizipieren müsste.

«Miserääää», singt Hetfield, der grosse Dornenkönig, im 11-minütigen Kriechlied «Inamorata»: «Misery, she needs me, but I need her more.» Oder, an anderer Stelle, im saftrippigen «If Darkness Had a Son»: «Wenn die Dunkelheit einen Sohn hätte – hallo, hier bin ich!» Obwohl dieses Album am Ende natürlich viel zu lang und teilweise zu stumpf ist und einem das, was eh schon schwer ist, manchmal noch schwerer macht: Wenn die Dunkelheit ein Handtäschchen hätte, «72 Seasons» würde genau hineinpassen.