Ein Ton kann eine Sekunde oder 639 Jahre dauern
Wir leben länger und arbeiten weniger lang als unsere Vorfahren. Und doch haben wir nie Zeit. Das Vögele-Kulturzentrum lädt uns ein darüber nachzudenken, warum das so ist.
Die Ausstellung beginnt mit einem Paukenschlag. Wörtlich gemeint. Mitten im Raum steht eine Pauke, auf die in regelmässigen Zeitabständen Schlagzeugstöcke von einem Laufband herunterfallen. Das Werk des 2008 verstorbenen Berner Künstlers Ueli Berger unterteilt den Ausstellungsbesuch akustisch. Von überall her sind die Knall- und Scheppergeräusche zu hören. Wer nicht auf sie gefasst ist, erschrickt; wer auf den nächsten Knall wartet, bleibt fasziniert stehen.
Eine Ausstellung über die vielfältigen Wahrnehmungsformen der Zeit kommt natürlich nicht darum herum, auch über das Warten nachzudenken. Und so können wir uns in einem vollkommen reizlosen Raum auf eine ovale Sperrholzbank setzen und der Zeit beim Verrinnen zusehen. Wir können auf den grossformatigen Fotos der Holländerin Iris Vetter Menschen beim Warten zuschauen oder in einem Videofilm der beiden Portugiesen João Maria Gusmão und Pedro Paiva einen Gipfelibäcker beim Teigrollen und einen Papagei beim Fliegen beobachten – bis alles stillsteht.
Oder wir setzen uns Kopfhörer auf und lauschen einem Orgelton aus der Halberstadter Burchardikirche, der seit 2013 erklingt und im September 2020 das nächste Mal wechselt. Das Werk des 1992 verstorbenen amerikanischen Komponisten John Cage heisst „As slow as possible“; die Aufführung hat 2001 begonnen und soll 639 Jahre dauern.
Seit seiner Neuausrichtung unter der Leitung von Monica Vögele nimmt sich das Pfäffiker Kulturzentrum zweimal im Jahr ein gesellschaftsphilosophisches Thema wie Verantwortung, Identität oder Zeit vor und inszeniert dieses mit künstlerischen Arbeiten, Texten und Veranstaltungen. Die beiden Berliner Kuratorinnen Mira Frye und Olga von Schubert interessiert diesmal, wie der heutige Mensch Zeit wahrnimmt und gestaltet, welche Rhythmen und Zyklen seine Zeit strukturieren und ob diese Strukturen veränderbar sind. Szenografin Martina Borner vom Sarner Büro Steiner hat den Ausstellungsraum mittels Baugerüsten in einzelne Erfahrungsräume unterteilt. Die Baustelle stehe als Metapher für die Vergänglichkeit und lasse sowohl Vergangenheit als auch Zukunft erahnen.
Die Zukunft nicht im Griff
Weit in die Zukunft weisen die Insektenzeichnungen von Cornelia Hesse-Honegger. Sie durchstreift seit dem Reaktorunfall von Tschernobyl regelmässig die Umgebung von Atomkraftwerken und dokumentiert mit naturgetreuen Zeichnungen die Deformationen von Insekten und Pflanzen. Verkrüppelte Flügel und Blätter als Mahnmale dafür, dass der menschliche Glaube, die Zukunft im Griff zu haben, nichts als ein Wahn ist. Dass dieser schon in früheren Zeiten um sich griff, beweist eindrücklich das Tulpenbuch von Pieter Cos aus dem 17. Jahrhundert. Mit der Tulpenknolle, die für 4000 Pfund gehandelt wird, degradiert der Mensch die Zukunft zur blossen Gewinnerwartung.
Wie es anders sein kann, zeigt das Werk des Papierkünstlers Erwin Hapke. Der gelernte Schlosser und promovierte Biologe lebte fast 40 Jahre lang völlig zurückgezogen in seinem Elternhaus in Unna im Ruhrgebiet und schuf sich seine eigene Origami-Welt. Erst nach Hapkes Tod 2016 entdeckte sein Neffe dieses Universum aus Hunderttausenden Papierfiguren. Das Vögele-Kulturzentrum durfte erstmals einen Originalraum des Hauses nachbauen. An der Wand hängt die handschriftliche Verfügung von Hapke, in der er sich wünscht, dass alles im Haus für immer so bleiben möge, wie es zu seiner Zeit war.
Alles zur Zeit. Über den Takt, der unser Leben bestimmt. Ausstellung im Vögele-Kulturzentrum Pfäffikon, 21. Mai bis 24. September. www.voegelekultur.ch
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