Siebenkämpferin Annik KälinAls sie nicht mehr ehrlich war zu sich, zog der Vater die Reissleine
WM-Sechste im Siebenkampf – das hat vor Annik Kälin keine Schweizerin erreicht. Die 22-Jährige musste ein Jahr pausieren, jetzt gehört sie zu den Weltbesten.

Nun liegen sie alle am Boden. Platt, fix und fertig. Die Siebenkämpferinnen haben im Hayward Field gerade ihre letzte Disziplin, die hassgeliebten 800 m, hinter sich gebracht, jetzt ist Schluss. Es folgen die traditionellen Umarmungen, die Athletinnen waren zwar zwei Tage lang Gegnerinnen, sie wuchsen aber auch zu einem verschworenen Grüppchen zusammen. Das sich nun aufmacht zur Ehrenrunde, es wird ein Spaziergang, auf dem es sich den Applaus abholt – und mittendrin Annik Kälin.
Die 22-jährige Schweizerin aus Grüsch im Prättigau nimmt in Eugene erstmals an Weltmeisterschaften der Elite teil. Ihre Geschichte ist die einer Athletin, die sich im Frühling 2021 eingestehen musste, dass ihr Rücken zu sehr schmerzt, als dass man ihm all die Belastungen einer Mehrkämpferin weiter zumuten könnte. Es folgte eine einjährige Wettkampfpause, und jetzt ist Annik Kälin eine der Weltbesten. Sie wusste es schon, als sie noch am Boden lag: Ihre Leistungen bedeuteten (wieder) Schweizer Rekord (6464 Punkte) und viel mehr: Sie war Sechste geworden. An ihrer ersten WM. Unter den «Grossen».
Natürlich fallen im ersten Moment die Ausdrücke «cool, megalässig, mega Freude» – das bezieht sie alles auf ihr schwieriges vergangenes Jahr. Dann muss sie zur Dopingkontrolle. Das kommt ihr gelegen, weil ein Schweizer Rekord nur mit nachfolgendem negativen Test homologiert wird. Das geht also alles in einem.
Das Unternehmen «Siebenkämpferin Kälin» ist ein interessantes, weil äusserst kompaktes.
Das Unternehmen «Siebenkämpferin Kälin» ist ein interessantes, weil äusserst kompaktes. Zu ihm gehört Vater Marco Kälin, der ihr Trainer ist. In allen Disziplinen. Und dazu gehören ein Arzt und eine Physiotherapeutin. Der Arzt ist ebenfalls ihr Vater, ein Allgemeinpraktiker mit Praxis im Dorf. Und die Physiotherapeutin ist die Athletin selbst. «Ich habe ein gutes Körpergefühl. Im letzten Jahr habe ich dann gemerkt, dass ich nicht mehr ehrlich zu mir bin», sagt sie. Sie habe nicht wahrhaben wollen, dass die Rückenbeschwerden zu gravierend geworden seien.
Annik Kälin ist für ihr Alter eine bereits routinierte, erfahrene Athletin. Sie steht exemplarisch für alle erfolgreichen Jungen in der Schweizer Leichtathletik des vergangenen Jahrzehnts. Sie ist im UBS-Kids-Cup gross geworden, dem so erfolgreichen Nachwuchsprojekt, und gehörte als Juniorin international schon zu den Besten.
Der Trainervater wartet vor den Katakomben des Stadions mit einigem Gepäck auf die Tochter und nennt den Zungenbrecher Spondylolyse als Ursache für die Schmerzen. «Es ist ein Riss in einem Wirbelbogen und kommt recht häufig vor.» Hinzugekommen ist ein Ermüdungsbruch. Der Arzt brachte die Athletin dazu, die Saison zugunsten der Zukunft abzubrechen und eine längere Pause einzulegen. «Ich machte ihr klar, dass das nicht das Ende der Karriere ist.» Das sei wichtig gewesen, dass sie das gewusst habe.
Vorwärts mit achter Disziplin
Es war tatsächlich nicht das Ende, sondern ein Neuanfang. Annik Kälin ist heute schmerzfrei, erreicht hat sie dies durch Anpassungen und eine achte Disziplin: Rumpfmuskulatur stärken. «Der Rumpf ist entscheidend, ich darf ihn auch nicht vernachlässigen, wenn Wettkämpfe anstehen», sagt sie, als sie von der Kontrolle zurück ist. Angepasst hat sie gewisse Bewegungen, «ein hohles Kreuz ist beispielsweise verboten», sagt der Vater.
Die Athletin hat bei ihrer Rückkehr einen erstaunlichen Steigerungslauf hingelegt. Schon bei ihrem ersten Siebenkampf Anfang Mai in Grosseto (ITA) erreichte sie eine Punktzahl, die vor ihr keine Schweizerin erreicht hat. Einen Monat später in Götzis gelang ihr ein ähnlich hochstehender Wettkampf und nun – ja, ein Rekord beim grössten Titelkampf neben Olympischen Spielen. Das bringt nicht nur die Athletin ins Schwärmen.
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«Es war ein Superwettkampf. Die Bestzeit über die Hürden gleich zu Beginn gab Lockerheit, danach konnte ich es sogar geniessen», sagt sie. Die 6464 Punkte ergaben sich aus 13,17 Sekunden über die Hürden, sie sprang 1,74 m hoch, stiess die Kugel auf 13,71 m, lief die 200 m in 24,05 Sekunden, sprang 6,56 m weit, warf den Speer auf 48,25 m und lief zuletzt in 2:17,49 über 800 m zum Rekord.
«Ich war extrem konstant»
Die Schnelligkeit ist ihre Stärke, technisch ist sie weit fortgeschritten. Ähnlich wie Simon Ehammer liegen ihr die Hürden, der Weitsprung, der Sprint. Sie kann selbst über sich staunen und sagt: «Ich war extrem konstant, es hatte keine Ausreisser nach oben, aber auch keine nach unten. Und Konstanz hilft enorm.» Mittlerweile ist sie sich sicher, dass ihr die Pause keineswegs geschadet hat. «Ich habe in dieser Zeit viel an der Schnelligkeit und Kraft gearbeitet, davon profitiere ich jetzt.»
In einem Monat bereits findet die EM in München statt. Sie sagt: «Ich habe mehr Potenzial, das war noch nicht der Zenit.» Aber natürlich ist ihr nicht entgangen, dass der Siebenkampf von Europäerinnen geprägt wird. Doppelolympiasiegerin Nafissatou Thiam (BEL) wurde zum zweiten Mal Weltmeisterin (6947 P.), vor ihr liegen drei weitere Europäerinnen. Es ist Annik Kälin egal. Wichtig ist ihr, dass sie zurück ist. Auf höchstem Niveau.
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