«Adolescence» auf NetflixEine unerträgliche Serie für Eltern, die alle sehen sollten
Ein 13-jähriger Junge ermordet eine Mitschülerin: Das Werk ist ein Weckruf, der zeigt, wie die sozialen Medien und der Incel-Kult Kinder prägen.

- Die Serie «Adolescence» ist bei Netflix zurzeit auf Platz 1 der meistgeschauten Serien.
- Die britische Produktion beleuchtet den Mordfall eines 13-jährigen Jungen an einer Mitschülerin.
- Zu Zeiten, in denen Femizide, Messergewalt sowie Kinder- und Jugendkriminalität zunehmen, ist die Serie relevant.
- Gedreht ohne Schnitte, bietet sie ein immersives und bedrückendes Erlebnis.
Frühmorgens kracht es gewaltig in einem Vorort in England. Polizisten in Vollmontur haben mit einem Rammbock eine Haustür aufgebrochen und stürmen das Einfamilienhaus. Sie rennen vorbei an den bestürzten Eltern, rein ins Kinderzimmer. Und verhaften den 13-jährigen Jamie, der noch in seinem Bett liegt. Er soll letzte Nacht eine Mitschülerin ermordet haben. Siebenmal soll er mit einem Messer auf Katie eingestochen haben.
Bis zur letzten Folge der vierteiligen Netflix-Serie «Adolescence» hofft man, dass sich die Polizisten geirrt haben und dass es der Junge, so wie er fest beteuert, nicht war. Doch es ist eben kein «Whodunnit» und auch keine Serie mit einem grossen Plot-Twist, der Jamie (Owen Cooper) entlasten und uns von diesem Schrecken erlösen würde.

Bereits in der ersten Folge – und das ist an dieser Stelle kein Spoiler – gibt es keine Zweifel an der Täterschaft. Jamies Vater Eddie (Stephen Graham, zugleich auch Schöpfer der Serie) und das Publikum werden mit einem Überwachungsvideo konfrontiert, das den 13-jährigen Schulbub bei der Tat zeigt.
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Denn die britische Produktion «Adolescence» ist vielmehr ein «Why did he do it». Was bringt einen 13-jährigen Jungen dazu, eine solche Tat zu begehen?
Eine Welt, die Erwachsene nicht mehr verstehen
Die Macher der Serie führen uns auf Spurensuche, die sich über einen Zeitraum von dreizehn Monaten erstreckt. Zuerst auf dem Polizeiposten, wo selbst hartgesottene Polizisten mit sich ringen, wenn sie bei einem Kind eine Leibesvisitation durchführen und es verhören müssen. Dann in Jamies Schule, die von einem Chaos aus pubertierenden Kindern und überforderten Lehrern zeugt. In der Verwahrung, als eine intelligente Kinderpsychologin (Erin Doherty) ein Gutachten zu Jamie durchführt und ob seiner Radikalisierung erschrickt. Und schliesslich bei seiner Familie, die mit der Tat von Jamie und den Nachwirkungen klarkommen muss.

Die Geschichte ist symptomatisch für unsere Zeit. Es geht um Kinder, die sich in den sozialen Medien bewegen, fernab ihrer Eltern, die schon lange nicht mehr wissen, was die Kinder dort genau treiben. Es ist eine Welt, in der harmlos wirkende Emojis schon eine tiefere Bedeutung haben, die Erwachsene kaum dechiffrieren können. Nur dank seines Sohnes findet Kriminalkommissar Luke Bascombe (Ashley Walters) heraus, dass Jamie von seinem späteren Opfer Katie auf Instagram vorgeworfen wurde, ein Incel zu sein. Der Begriff steht für «involuntary celibate» – «unfreiwillig zölibatär» – und beschreibt einen Mann, der keine Frauen abkriegt – und darum zum Frauenhasser wird.
Wie ohnmächtig Eltern und Lehrer sind, wenn es darum geht, in welcher Realität ihre Kinder bereits leben, zeigt sich, indem sie sogleich von Andrew Tate sprechen. Viel mehr als den Namen des umstrittenen Männer-Influencers verbinden sie nicht mit dem Internetkult, der jungen Männern beibringt, dass sie sich von Frauen nehmen dürfen, was sie wollen. Dabei geht es bei Kindern schon lange nicht mehr nur um Figuren wie Tate. Es geht um weitverbreitete misogyne Theorien wie die «80-20»-Regel, die besagt, dass 80 Prozent der Frauen auf nur 20 Prozent der Männer stehen.
Owen Cooper als Jamie überzeugt
Zu Zeiten, in denen Femizide, Messergewalt sowie Kinder- und Jugendkriminalität zunehmen, ist das Thema relevant und deshalb auch schwer anzusehen. Dazu trägt auch die Machart der Serie bei. Jede einzelne rund 50- bis 60-minütige Folge wurde ohne Schnitt gedreht. Pro Folge hatte das Drehteam nur drei Wochen Zeit, um alle Abläufe, Schauspielerinnen und Komparsen so zu choreografieren, dass am Schluss alles in einem Take zusammenkam.

Die Serie ist kein actionreicher Blockbuster, sondern zeigt pausenlos jedes noch so kleinste Detail: die rigorose Routine-Prozedur auf dem Polizeiposten, das Katz-und-Maus-Spiel zwischen der Psychologin und Jamie sowie das unangenehm lange Schweigen der gebrochenen Familie auf einer noch längeren Autofahrt. All das macht das Zuschauererlebnis so immersiv, dass es teilweise unerträglich ist. Doch die Macher widerspiegeln damit die bittere Realität, in der man nichts mehr zurechtschneiden und erst recht nicht mehr wegsehen kann.
«Adolescence» überzeugt wegen der technischen und der schauspielerischen Leistungen, insbesondere von Jamie-Darsteller Owen Cooper, der zuvor keinerlei Schauspielerfahrung hatte. Und vor allem, weil die Serie keine einfachen Auswege sucht.
Jamie stammt nicht aus einem gewalttätigen Haus, hat völlig normale, liebevolle Eltern – er könnte jeder Junge sein, der ein Smartphone besitzt und von dem man erwartet, dass er sich allein durch diese immer kompliziertere Welt navigieren muss. «Adolescence» bietet keine Lösungen. Doch die Serie sollte ein Anstoss sein, dass wir endlich über welche sprechen. Auch mit unseren Kindern.
«Adolescence», auf Netflix.
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