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Analyse zu den Krankenkassen
Welche Reform ist jetzt die richtige?

[Symbolbild] Verschiedene Schweizer Krankenversicherungskarten, fotografiert am Dienstag, 25. April 2023 in Bern. (KEYSTONE/Christian Beutler)
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Einheitskasse statt Telefonwerbung. Budget-Kassen mit eingeschränkter Leistung. Kostenbremse gegen steigende Krankenkassenprämien: Es mangelt nicht an politischen Vorstössen, die das Gesundheitssystem umkrempeln wollen.

Doch welche Reform ist die richtige? Und: Wie reformbedürftig ist das System überhaupt? Die Antworten auf diese Fragen sind nicht trivial. Denn das Krankenkassenwesen ist kompliziert – und hat bereits massgebliche Reformen durchgemacht, deren Auswirkungen erst nach und nach bemerkbar werden.

Was bisher geschah

Zunächst zum Grundsätzlichen. Hört man Politikerinnen zu, so erhält man manchmal den Eindruck, im Gesundheitswesen gehe es primär um tiefe Kosten. Das ist falsch. Das System soll nicht möglichst wenig Ausgaben produzieren: Es soll sicherstellen, dass die Ausgaben effektiv und effizient sind. Gesundheit ist schliesslich ein ökonomisches «Gut» und nicht ein «Schlecht».

Dies ist der Hauptgrund dafür, dass die Gesellschaft im Zuge des medizinischen Fortschritts und der demografischen Alterung immer mehr Geld für die Gesundheit ausgibt. Stand heute sind es jährlich rund 90 Milliarden Franken oder 11,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Rund ein Drittel davon wird über die obligatorische Krankenversicherung finanziert. In Form von steigenden Prämien bekommt die Bevölkerung so das Ausgabenwachstum zu spüren.

Von 1999 bis 2023 stieg die mittlere Prämie im Schnitt um 3,6 Prozent pro Jahr. Auf das Jahr 2024 hin geht sie sogar um 8,7 Prozent hoch, auf 427 Franken pro Monat. So viel an Prämien zahlen Schweizerinnen bald im Durchschnitt.

Krankenkassen haben einen schlechten Ruf. Sie geben viel Geld für Plakat- und Telefonwerbung aus, aber tun wenig gegen hohe Kosten, lautet ein Vorwurf. Die Kassen veranstalten einen Scheinwettbewerb, lautet ein anderer.

Was nur wenige realisieren: Der Wettbewerb, in dem die Kassen stehen, hat sich übers letzte Jahrzehnt radikal verändert. Das liegt an der «Mutter aller Reformen», die Gesundheitsminister Alain Berset über den Verordnungsweg abseits des Scheinwerferlichts umgesetzt hat: dem verfeinerten Risikoausgleich.

Kassen mit verhältnismässig gesunden Versicherten (die wenig Ausgaben verursachen) zahlen deutlich mehr Geld als früher in den Risikoausgleich ein. Kassen mit verhältnismässig kranken Versicherten (die viel Ausgaben verursachen) erhalten wesentlich mehr aus dem Risikoausgleich.

Das hat einerseits dazu geführt, dass sich die Prämien der einzelnen Kassen angeglichen haben – die Bandbreite ist kleiner geworden. Andererseits hat es die Geschäftsstrategien auf den Kopf gestellt. Früher waren die Kassen vor allem hinter «guten Risiken» her, also gesunden Versicherten. Heute ist das anders. «Schlechte Risiken» können für die Kassen finanziell interessanter sein als gute. Damit gehen andere Anreize einher, wie der Krankenkassenexperte Stephan Wirz sagt: Die Kassen müssen Versicherungsmodelle anbieten, die gerade für kränkere Versicherte attraktiv sind – preislich und im Service.

Das ist deshalb wichtig, weil bei den Gesundheitsausgaben die 80-20-Regel gilt: 80 Prozent der Ausgaben werden von 20 Prozent der Versicherten verursacht – von den kränksten. Werden sie wirksamer und effizienter behandelt, so können die Ausgaben im gesamten Gesundheitswesen massgeblich gedämpft werden.

Was aktuell geschieht

Krankenkassen haben begonnen, sich gezielter mit dieser Gruppe zu befassen. Zum Beispiel Visana: Sie bringt per 1. Januar 2024 in Zusammenarbeit mit dem Kanton Bern und der Spitalgruppe Swiss Medical Network ein neues Modell auf den Markt. Es beinhaltet kostenlose Präventionsleistungen für Versicherte mit chronischen Krankheiten wie Diabetes, Asthma oder Bluthochdruck. Ein Netz aus Hausärzten und Spitälern begleitet die Patienten dabei engmaschig und versucht, die Kosten tief zu halten und Folgeerkrankungen zu verhindern.

Ihnen steht dafür ein sogenanntes Globalbudget zur Verfügung. Das heisst, die Ärzte und Spitäler rechnen nicht wie üblich jede Leistung einzeln ab, sondern erhalten einen fixen Betrag pro Versicherten und Jahr. Ökonomisch ist das eine kleine Revolution: Es entfällt das Interesse, möglichst viele Konsultationen und Tests durchzuführen – stattdessen müssen alle Beteiligten auf Effizienz achten.

Das Modell wird vorerst im Jurabogen erprobt und offeriert Versicherten bis zu 20 Prozent billigere Prämien. An diese Grössenordnung kommen heute nur die attraktivsten Gruppenpraxismodelle heran. Bei den meisten anderen Modellen ist der Rabatt dagegen geringer. Das liegt daran, dass sie nicht «vollintegriert» sind: Die Versicherten verpflichten sich bloss, bei einem Anliegen zuerst den Hausarzt, eine Gesundheitshotline oder neuerdings auch App zu konsultieren.

Dies verhindert zu einem gewissen Grad unnötige Behandlungen. Doch es bietet Ärzten und Spitälern keine finanziellen Anreize, die Behandlung von Patienten zu koordinieren und so effektiv wie möglich zu gestalten. Genau das wäre aber wichtig. Mediziner sind schliesslich auch ökonomische Akteure.

Um solche Anreize zu etablieren, braucht es Modelle wie jenes von Visana. Kassen, die erfolgreich solche Modelle lancieren, können Effizienzgewinne bei der Behandlung ihrer versicherten Patienten erzielen – und diese Gewinne schliesslich in Form von tieferen Prämien an die Versicherten weiterreichen.

Die meisten Experten glauben, dass der Wettbewerb unter den Kassen das beste Mittel ist, um diesen Prozess voranzutreiben. «Das Krankenversicherungsgesetz bietet genug Raum für Innovationen», sagt Simon Wieser, Gesundheitsökonom an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. «Und man sieht, dass die Kassen sich zunehmend darum bemühen.»

Was nun geschehen sollte

Trotzdem steht das System unter Beschuss. Die SP etwa will keine Kassen, die zueinander im Wettbewerb stehen, hohe Cheflöhne bezahlen und viel Geld für Werbung ausgeben – sondern eine staatlich organisierte Einheitskasse.

Was das wirklich bringen würde, ist aber fraglich. Besonders viel lässt sich beim Verwaltungsaufwand nicht einsparen. Dieser macht gemäss Statistik über alle Kassen hinweg knapp 5 Prozent der Gesamtausgaben aus; bei den grössten Kassen sind es etwas weniger. Dass eine staatliche Kasse deutlich weniger Verwaltungsaufwand hätte, ist unrealistisch. Auch sie müsste Personal einsetzen, um Abrechnungen zu überprüfen, Versicherte zu beraten und Tarifverträge mit Ärzten und Spitälern auszuhandeln – ohne administrative Kleinarbeit dieser Art funktioniert keine Krankenversicherung.

Immerhin: Rund 120 Millionen Franken oder 0,3 Prozent der Gesamtausgaben, die Kassen gemäss einer Schätzung des Comparis-Experten Felix Schneuwly derzeit für Werbung und Vermittlerprovisionen ausgeben, wären überflüssig.

Demgegenüber stehen die Nachteile einer Einheitskasse: Versicherte verlieren die Wahlfreiheit. So fällt der Wettbewerbsdruck weg, der Kassen zu Serviceverbesserungen und Innovation zwingt, etwa bei der Digitalisierung. Dass eine Monopolkasse hier einen besseren Job machen würde, ist wenig wahrscheinlich.

«Volkswirtschaftlich können wir die Gesundheitsausgaben problemlos tragen. Einzelne Haushalte können es weniger gut.»

Pius Gyger, Gesundheitsökonom

Nicht auf Verstaatlichung, sondern auf individuelle Einschränkungen setzt dagegen die FDP. Die von ihr propagierten «Budget-Kassen» sollen Modelle anbieten können, bei denen Versicherte etwa zwingend Generika statt Originalpräparate beziehen oder freiwillige Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Auch ein höherer Selbstbehalt ist vorgesehen: Versicherte würden bei jedem medizinischen Fall die ersten 600 Franken selbst bezahlen. Im Gegenzug würden die Prämien sinken, nach Angaben der Partei um bis zu 25 Prozent.

Manche dieser Massnahmen sind schon heute möglich. So hat etwa Groupe Mutuel letztes Jahr ein Versicherungsmodell lanciert, das Präventionsleistungen bei Brustkrebs übernimmt und Generika nicht der Franchise unterstellt. Andere Massnahmen – wie der höhere Selbstbehalt – laufen darauf hinaus, dass ein Teil der Versicherten für unkomplizierte medizinische Leistungen im Prinzip gar nicht mehr versichert ist: Die Versicherten zahlen diese immer aus dem eigenen Sack.

Ähnlich wie es bei Versicherungen mit hoher Wahlfranchise schon heute der Fall ist, sinkt dadurch die Prämie. Dagegen steigen die Kosten, die Versicherte im Krankheitsfall selbst tragen müssen. Das mag die Selbstdisziplin stärken, hilft dem finanziell belasteten Mittelstand am Ende aber nicht aus der Patsche.

Eine Familie mit zwei Kindern und einem jährlichen Haushaltseinkommen von 80’000 Franken bezahlt nach einer Rechnung des Gewerkschaftsbundes rund 10’000 Franken an Krankenkassenprämien. Eine Familie mit einem Einkommen von 160’000 Franken zahlt gut 15’000 Franken. Gemessen am absoluten Betrag zahlt die gut verdienende Familie also mehr. Relativ betrachtet wird sie aber weniger belastet: Mit rund 9,5 statt 12,6 Prozent des Einkommens.

Die Schweiz ist eines der wenigen Länder, in denen das so ist. In Deutschland geben Gutverdienende nicht einen kleineren, sondern einen grösseren Anteil ihres Einkommens für die Gesundheit aus. Und in den Niederlanden zahlen alle Einkommensklassen anteilsmässig gleich viel. Es wäre angebracht, dass auch die Schweiz die Finanzierung des Gesundheitssystems dahingehend anpasst.

Konkret würde das heissen: die individuelle Prämienverbilligung deutlich ausbauen – so, dass nicht nur arme Bevölkerungsschichten, sondern auch der breite Mittelstand spürbar entlastet wird. Dabei geht es streng genommen zwar nicht um Gesundheitspolitik, sondern um Sozialpolitik. Doch laut dem Gesundheitsökonomen Pius Gyger ist das kein Grund, die Problematik nicht zu adressieren. «Volkswirtschaftlich können wir die Gesundheitsausgaben problemlos tragen», sagt er. «Einzelne Haushalte können es weniger gut.»