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Auf zwölf Uhr gibt es eine Rose

Regula Kuster (links) und Franziska Dusek entdecken in der Villa Flora gemeinsam «Schiffe im Hafen» von Walter Kerker.
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In der Winterthurer Villa Flora trifft sich rund ein Dutzend Kulturvermittler und Interessenten. Im Rahmen eines berufsbegleitenden Studiums bei «kuverum - Kultuvermittlung» lernen sie heute Methoden zur kulturellen Teilhabe (siehe auch Box). Verantwortlich für diesen Teil des Programms ist Franziska Dusek, die damit selbst ihre Abschlussarbeit der Weiterbildung absolviert.

Sie ist zufällig auf das Thema «Blinde im Museum» gestossen – schlicht, weil ihre Nachbarin Regula Kuster stark sehbehindert ist: «Wir kamen ins Gespräch, Regula erfuhr, was ich mache und meinte dann, dass sie selbst gern mal wieder ins Museum möchte, sie dafür aber Hilfe bräuchte», sagt Franziska Dusek.

Früher gern im Museum

Regula Kuster hat nur noch auf dem linken Auge eine geringe Sehkraft von 15 Prozent. Ein Augeninfarkt auf dem rechten Auge hat sie vor 17 Jahre innerhalb von wenigen Tagen erblinden lassen. «Anders als Menschen, die blind geboren wurden, kann ich mir aber noch gut vorstellen, was auf Bildern zu sehen ist. Und ich bin früher gerne in Museen gegangen.»

Der Ausflug der beiden Frauen war ein Erfolg. Beide haben daraus die Erkenntnis gewonnen, dass sowohl auf Seiten der Kulturvermittler als auch auf Seiten der Blinden Initiative nötig ist. «In meiner Kontaktgruppe im Schweizerischen Blindenbund höre ich oft: Museum, das ist nichts mehr für mich. Aber Winterthur ist weltweit bekannt für seine Kunstsammlungen. Ich habe Freunde in den Niederlanden, die deshalb extra zu uns kommen. An diesem Aspekt des kulturellen Lebens der Stadt möchte ich teilhaben.»

Man könne ein Bild auch erleben, wenn es gut beschrieben ist. Und ausserdem böten Museen viel mehr als nur Bilder an den Wänden. «Gerade die älteren Häuser strahlen eine warme Atmosphäre aus. Man betritt das Gebäude und ist plötzlich losgelöst vom Lärm der Strasse – für diesen Genuss braucht man keine Erklärungen.»

Verschiedene Methoden

Um dem Wunsch nach Teilhabe gerecht zu werden, probieren die Studierenden unterschiedliche Methoden aus. Die einen beschreiben detailliert, was auf einem Bild zu sehen ist. Regula Kuster hatte vorher erklärt, wie es am besten funktioniert. «Ich stelle mir zur Orientierung das Zifferblatt einer Uhr vor. Ich brauche also Sätze wie ‹Von zwölf bis vier Uhr gibt es eine weisse Rose mit leicht geöffneten Blütenblättern. Sie steht in einer Glasvase, die von sechs bis neun Uhr reicht.›»

Ausserdem wäre es hilfreich zu wissen, wie der Rahmen aussieht, wie gross das Bild ist und auf welche Höhe es hängt. «Was ich nicht brauche, ist eine Interpretation – über die Bedeutung nachdenken kann ich auch alleine.» Eine Gruppe hat sich für die Übung das Doppelportrait «Gespräch» von Hans Ruedi Sieber ausgewählt.

Zwei Frauen stellen die abgebildeten Figuren nach, so dass Regula Kuster ertasten kann, wie sie einander zugewandt sind. Die nächste Gruppe stellt die Skulptur «Delphin» von Mathis Piotrowski in den Mittelpunkt – in der Hoffnung, dass man sie anfassen darf. Doch das vergoldete Eichenholz würde leiden. Eine Beschreibung muss reichen. Sie kommt bei Regula Kuster gut an: «Der Künstler scheint viel mit Licht und Schatten zu arbeiten», sagt sie. Die Studierenden sind verblüfft: «Gut, dass du das sagst. Daran haben wir gar nicht gedacht.»

Blind für eine halbe Stunde

Um sich in die Lage von Sehbehinderten hineinzuversetzen, setzen die Studierenden speziell präparierte Brillen des Blindenbunds auf: Eine simuliert einen Tunnelblick, nur ein winziges Loch erlaubt noch, die Umwelt optisch wahrzunehmen. Eine zweite zeigt, wie man mit grauem oder grünem Star die Umgebung sieht. Alles ist extrem verschwommen.

Die Versuchskaninchen lassen sich jeweils von einem sehenden Partner in die Ausstellung führen, indem sie sich an dessen Oberarm festhalten und auf Kommandos hören: «Achtung, eine Türschwelle.» «Hier wird es eng, ich gehe mal vor.» Plötzlich nehmen sie andere Details wahr: Im Wintergarten vor dem Eingang ist es viel wärmer. Im Haupthaus riecht es anders. Der Boden unter den Füssen fühlt sich jeweils unterschiedlich an.

«Trotz aller Erklärungen braucht man ein paar Minuten, um einen Raum überhaupt zu erfassen», sagt einer der Teilnehmer. Sprechen mehrere Menschen gleichzeitig, ist höchste Konzentration gefordert. «Bei der Vermittlung müssen wir auf jeden Fall die Menge der Sinneseindrücke dosieren», ist eine der Erkenntnisse des Selbstversuchs.

Beide Seiten profitieren

Wer Blinden im Museum zur Seite steht, muss lernen umzudenken. Franziska Dusek spürt es am eigenen Leib, als sie versucht Walter Kerkers «Schiffe im Hafen» zu erklären. «Bei einer Beschreibung, die für mich als Kulturvermittlerin zum Berufsalltag dazu gehört, gehe ich unwillkürlich davon aus, dass jeder sieht, was ich sehe. Aber das ist ja nicht mal bei Sehenden so. Jeder nimmt Bilder anders wahr. Insofern hilft mir die Übung heute, einmal noch genauer hinzuschauen. Ich habe Details entdeckt, die mir sonst vielleicht entgangen wären.»

Stefan Böhi von der Sukkulenten-Sammlung Zürich, der als Gärtner und als Kulturvermittler arbeitet, hat bereits praktische Erfahrungen bei Führungen für Blinde gemacht. «Bei uns gibt es viel zu riechen, zu hören und anzufassen. Ich habe aber unterschätzt, wie empfindlich die Finger von Sehbehinderten sind. Eine Dame hat sich an Dornen gestochen, die ich problemlos berühren konnte.»

Sich für einmal auf den Tastsinn, die Nase und das Gehör zu verlassen, sei auch für Sehende sehr lohnend. Als Gastgeber für Blinde habe er aber gemerkt, wie man an seine Grenzen stösst. «Es fängt bei den Formulierungen an: ‚Schauen Sie da' darf ich eigentlich nicht mehr sagen, aber es rutscht einem doch heraus.“»