Porträt von Léonor SerrailleIst sie als Weisse die falsche Regisseurin?
«Un petit frère» ist ein wunderbarer Film über eine afrikanische Familie in Frankreich. Auch wenn das nicht alle so sehen.
Eine Mutter mit zwei Kindern im Zug. Der Kleine, fünfjährig, sitzt auf ihrem Schoss. Der Grosse, zehn, schmiegt sich auf dem Nebensitz an sie. Die vaterlose Familie kommt irgendwo aus Afrika, ist neu in Frankreich. Wohin geht sie?
Davon handelt der Film «Un petit frère». Er nimmt sich Zeit dafür, schildert zwanzig Jahre im Leben dieser drei Personen, mit allen Höhen und Tiefen. Ein dichtes Porträt über eine Familie, das vor einem Jahr in den Wettbewerb von Cannes eingeladen wurde. Nach der Premiere gab es viel Lob für die Regisseurin. Und ein paar persönliche Anfeindungen. Tenor: Was erlauben Sie sich?
«Mir wurde das Recht abgesprochen, als Weisse einen Film mit afrikanischen Hauptpersonen zu drehen», sagt Léonor Serraille (37). Das sei ihr in Mails und Nachrichten auf sozialen Medien unmissverständlich mitgeteilt worden, «zum Teil in Worten, die ich nicht zitieren kann». Und selbstverständlich von Menschen, die den Film gar nicht gesehen hätten.
Léonor Serraille ist nicht naiv. Im Jahr 2017 feierte sie mit ihrem Kinoerstling «Jeune femme» einen kleinen Erfolg, es war die persönliche Geschichte einer Frau, die sich in Paris nach einer Trennung neu finden muss. Für den zweiten Film – «ich weiss, das sind immer die schwierigsten» – suchte sie nach etwas ganz anderem. Und fand es wieder nahe bei sich.
Inspiriert von der Geschichte ihres Partners
Seit zwanzig Jahren ist die Regisseurin mit einem Mann zusammen, der als Kind von der Elfenbeinküste nach Frankreich kam. «Un petit frère» ist inspiriert von seiner Geschichte, ihr Partner habe ihr alle Freiheiten gelassen, Elemente aus seiner Biografie zu verwenden, sagt Léonor Serraille. Und: «Den Film habe ich eigentlich für unsere zwei Kinder gemacht, die haben das Recht, etwas anderes über die Immigration zu erfahren als das, was täglich von französischen Nachrichtensendern verbreitet wird.»
Es ist keine heile Welt, die Léonor Serraille zeigt. Die Mutter entfremdet sich teilweise von den Söhnen, wirkt überfordert. Und die Söhne stehen sich oft selbst im Weg, können ihr Talent nicht so verwirklichen, wie sie es sich wünschen. Erzählt wird das in drei Kapiteln aus der Sicht der Hauptpersonen. Lücken und Auslassungen gehören dabei zur Qualität des Films.
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Es ist von den ersten Bildern an klar, dass Léonor Serraille genau weiss, wovon sie spricht. «Hätte ich etwa einen Film über Bäuerinnen im französischen Hinterland machen sollen?», fragt die in Lyon geborene Städterin rhetorisch. Von diesem Thema habe sie keine Ahnung. Aber niemand hätte reklamiert.
«Wir stellen uns nie die Frage nach Schwarz und Weiss»
«Irgendwie habe ich das Gefühl, dass mein Freund und ich in der Zukunft leben, wir stellen uns nie die Frage, wer weiss ist und wer schwarz in unserer Beziehung», sagt sie. Das ist das erzählerische Fundament dieses Films, der so eine für Frankreich neue Geschichte präsentiert. Über fremde Menschen, aber sehr französisch.
«Un petit frère» basiert nicht ausschliesslich auf den Lebenserinnerungen des Partners von Léonor Serraille. Es gibt im Film eine Figur namens Jules César, er umschwärmt die Mutter der Kinder. «Einen Mann, der sich so nannte, habe ich als junge Studentin gekannt», sagt die Regisseurin. Sie habe damals an einer Kinokasse gearbeitet. Und der Eroberer Cäsar habe die Tickets abgerissen.
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