Leitartikel zum Kampf um Israels DemokratieIsrael steht am Scheideweg
Es tobt ein Kampf in und um Israel – und dieser Kampf droht für den jüdischen Staat gefährlicher zu werden als alle Angriffe von aussen.
Israels Politikbetrieb gleicht in diesen Tagen einem Tollhaus. Die Knesset, das Parlament in Jerusalem, ist ein Platz der Tränen und Tumulte, und draussen versammeln sich die Massen zum wütenden Protest. Von einem Staatsstreich ist die Rede, vor Blutvergiessen wird gewarnt und vor einem Bürgerkrieg. Kurzum, es tobt ein Kampf in und um Israel – und dieser Kampf droht für den jüdischen Staat gefährlicher zu werden als alle Angriffe von aussen.
Die Ausgangslage: Auf der einen Seite der inner-israelischen Front steht die rechtsreligiöse Regierung von Premierminister Benjamin Netanyahu, die in den nicht einmal sieben Wochen seit Amtsantritt zum Kampf geblasen hat gegen die alte Ordnung. In den Mittelpunkt hat sie eine Justizreform gerückt, die den obersten Gerichtshof als Kontrollinstanz ausschalten und damit die Gewaltenteilung aushebeln würde. Das ist ein Freifahrtschein zum Durchregieren, aus der Demokratie droht damit eine Tyrannei der Mehrheit zu werden.
Diese Mehrheit aber, auf die sich die Regierung nun in all ihrem Handeln beruft, ist hauchdünn. 30’000 Stimmen Vorsprung bei der Wahl sind gewiss kein Mandat für die geplanten Umwälzungen. Die Wahlverlierer stemmen sich deshalb nun mit aller Kraft gegen die Regierungspläne.
Wenn die Fronten so verhärtet sind, dann braucht es einen Mediator. Israels Präsident Isaac Herzog, der aus der alten Arbeitspartei entstammt und sein Amt strikt überparteilich auslegt, hat sich zu Wochenbeginn eingeschaltet mit einem emotionalen Appell vor der versammelten Fernsehnation. Er hat vor einem Zusammenbruch der Gesellschaft und des Staats gewarnt, hat den Dialog angemahnt, hat einen 5-Punkte-Plan für den Konsens vorgelegt. Doch das wird nicht funktionieren, aus mindestens drei Gründen.
Erstens: Die treibenden Kräfte hinter der Justizreform und dem Umbau des Staats sind sendungsbewusste Ideologen, die seit langem genau wissen, was sie wollen, und nun ihre Chance zum Handeln gekommen sehen. Wenn sie etwas fürchten, dann höchstens, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt – aber ganz gewiss fürchten sie keine Konfrontationen oder Demonstrationen. Warnungen von innen oder auch von aussen schrecken sie nicht ab, sondern bestärken sie nur.
Zweitens: Gestoppt werden können diese radikalen Kräfte höchstens von einem, nämlich von Regierungschef Netanyahu. Der präsentiert sich in diesen angespannten Zeiten gern als Dompteur im Raubtierkäfig. Zudem muss er mit 73 Jahren und in seiner sechsten Amtszeit auch den eigenen Nachruhm im Blick halten – womöglich will er nicht als Totengräber der israelischen Demokratie in die Geschichte eingehen. Doch Netanyahu hat sich in dieser Koalition den radikalen Partnern weitgehend ausgeliefert. Nur mit ihnen kann er regieren, nur sie sind bereit, ihn vom Damoklesschwert des gegen ihn laufenden Korruptionsprozesses zu befreien.
Zum Dritten hat der Aufruf des Präsidenten zum Konsens einen entscheidenden Konstruktionsfehler: Er stellt eine Symmetrie her zwischen denen, die mit der Axt in der Hand die Demokratie beschneiden, und jenen, die sie verteidigen wollen. Er setzt voraus, dass mit ein wenig gutem Willen auf beiden Seiten eine Lösung gefunden werden könnte. Doch ein Treffen in der Mitte kann es nicht geben, wenn es um die Wahl geht zwischen liberal und illiberal, zwischen Demokratie und Autokratie.
Für eine Demokratie ist es ein niederschmetterndes Fazit, wenn kaum mehr Wege zum Kompromiss erkennbar sind. Doch der Staat Israel steht im 75. Jahr seines Bestehens tatsächlich an einem Scheideweg. Die Justizreform ist dabei nur ein Punkt auf einer umfassenderen Agenda, mit der die extremistischen Kräfte in der rechten Regierung das alte Israel um jeden Preis verändern wollen.
Wenn alles auf eine Machtprobe zusteuert, in der es keinen Gewinner geben wird, kann man nur noch auf die Kraft der Vernunft hoffen. Auf die Einsicht, dass Israels Stärke auch aus seinen demokratischen Werten erwächst und aus seinem wirtschaftlichen Erfolg, der nur im Rahmen dieser Werte möglich ist. Darauf, dass die radikalen Ränder, auch wenn sie noch so weit gewuchert sind, nicht die Mitte der israelischen Gesellschaft zerstören dürfen.
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