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Interview mit Agustín Carstens
«Die Weltwirtschaft ist an einem kritischen Punkt angelangt»

«Die Schweiz hat gute Chancen, eine Rezession zu vermeiden»: Agustín Carstens, Generaldirektor der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), am Hauptsitz in Basel.
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Herr Carstens, die Europäische Zentralbank (EZB) feiert diesen Monat ihren 25. Geburtstag, die US-Notenbank Fed wird im Dezember 110 Jahre alt. Gibt es einen Grund zum Feiern?

Ja, definitiv. Vor allem, wenn man die Entwicklung über diese lange Zeitspanne betrachtet. Seit den 1980er-Jahren in den USA und seit Bestehen der EZB war die Inflation meist stabil und unter 2 Prozent. So gesehen waren die Notenbanken mit ihrem Auftrag, Preisstabilität zu gewährleisten, sehr erfolgreich. Wenn man – so wie ich – aus einem Land wie Mexiko kommt, mit immer wiederkehrenden Zeiten von Hyperinflation, weiss man das zu schätzen.

Aber EZB und Fed haben zugelassen, dass die Inflation auf 10 Prozent steigt. Das sieht eher nach Versagen aus.

Covid war ein bedeutender Einschnitt. Es war das erste Mal, dass zur Bekämpfung einer Pandemie beschlossen wurde, die Wirtschaft stillzulegen. Das war dramatisch. Man hat eine schwere Rezession, ja eine Depression erwartet. Unter diesen Umständen haben die Finanz- und Währungsbehörden sich für eine sehr unterstützende Geld- und Finanzpolitik entschieden. Dann wurden Lieferketten unterbrochen, die Rohstoffpreise stiegen, und dann kam der Ukrainekrieg. All dies zusammen ergab einen enormen Inflationsschub, zu dem auch die fiskal- und geldpolitischen Massnahmen etwas beigetragen haben. Rückblickend lässt sich sagen, dass diese Massnahmen mit Blick auf den letztendlich kurzfristigen wirtschaftlichen Schock übertrieben waren – aber im Nachhinein ist man immer klüger.

Haben sich die Zentralbanken in den letzten Jahren zu sehr mit anderen Themen beschäftigt? Eine Studie zeigt, dass die EZB-Gouverneure in ihren Reden mehr über das Klima sprachen als über Inflation.

Ich glaube nicht. Die Zentralbanken waren schon immer verpflichtet, alle Faktoren zu berücksichtigen, die auf die Preisstabilität einen Einfluss haben können – also auch den Klimawandel. Sie werden das Klimaproblem nicht lösen können. Aber sie müssen es in ihre Entscheidungen einbeziehen, beispielsweise wenn das Risiko preistreibender Dürren steigt.

Die EZB betrachtet Klimaschutz als Teil ihres Mandats, die Schweizerische Nationalbank (SNB) nicht. Was ist Ihr Standpunkt?

Das Mandat der EZB ist ein wenig breiter gefasst. Sie kann die grundlegende Wirtschaftspolitik der Eurozone unterstützen, soweit dies mit dem Hauptmandat der Preisstabilität im Einklang steht. Das Mandat der SNB ist enger gefasst. Aber selbst ohne explizites Mandat wird die SNB die Folgen des Klimawandels analysieren müssen. Sie muss zwar keine Politik zur Bekämpfung des Klimawandels umsetzen. Aber sie muss ihn in ihre Entscheidungen einbeziehen.

Meinen es die Zentralbanken ernst mit der Inflationsbekämpfung?

Auf jeden Fall, sie meinen es absolut ernst. In den letzten 40 Jahren haben wir nie eine so schnelle und entschlossene Reaktion gesehen. Alle Notenbanken haben die Geldpolitik verschärft, und so kam es zum schnellsten Anstieg der Zinssätze seit vielen Jahren.

Der Euroraum ist bereits in die Rezession gerutscht. Können die Notenbanken die Inflation nur besiegen, indem sie eine Rezession auslösen?

Wie wir gesehen haben, ist die Weltwirtschaft widerstandsfähiger als erwartet. Daher denke ich, dass in vielen Ländern eine Reduktion der Inflation bei einer nur milden Abschwächung der Konjunktur – eine «weiche Landung» – möglich ist. Und dazu würde ich die Schweiz zählen. Das Land hat gute Chancen, eine Rezession zu vermeiden.

«Die Zeiten, in denen sich die Menschen nicht um die Preisentwicklung kümmern mussten, waren die besten.»

Und die USA?

Der Arbeitsmarkt ist immer noch sehr stark, die Arbeitslosigkeit niedrig. Die privaten Haushalte verfügen über einige Reserven aus den Konjunkturpaketen. Dies ermöglicht ihnen, ihren Konsum einigermassen aufrechtzuerhalten. Eine weiche Landung ist wahrscheinlicher als noch vor kurzem.

Einige Ökonomen halten es für sinnvoll, für eine gewisse Zeit Inflationsraten von 4 oder 5 Prozent zuzulassen. Was halten Sie davon?

Ich halte das für keine gute Idee. Die Zeiten, in denen sich die Menschen nicht um die Preisentwicklung kümmern mussten, waren die besten. Wenn man anfängt, sich mit 4 oder 5 Prozent zufriedenzugeben, führt das zu Verzerrungen in der Wirtschaft. Das würde sich negativ auf die Wirtschaft auswirken.

Glauben Sie, dass es der Fed und der EZB gelingen wird, die Inflation dauerhaft unter zwei Prozent zu senken?

Ja.

Wir haben Bankenpleiten in den USA gesehen und den Untergang der Credit Suisse. Wie stabil sind die Banken?

Im Grossen und Ganzen habe ich den Eindruck, dass die Banken solide sind. Insbesondere die mittelgrossen Banken, die gescheitert sind, hatten ein sehr riskantes Geschäftsmodell. Sie haben sich stark auf den Technologiesektor konzentriert, sind schnell gewachsen und hatten viele unversicherte Kundeneinlagen. Wenn Banken so schnell wachsen, treffen sie nicht unbedingt die besten Investitionsentscheidungen und sie gehen mehr Risiken ein. Hinzu kommt, dass die USA ihre aufsichtsrechtlichen Anforderungen an genau diese Banken gesenkt haben. Das war nicht die beste Entscheidung. Im Fall Credit Suisse war das Geschäftsmodell schon länger nicht solide. Wir sehen derzeit keine anderen Banken mit dieser Art von Problemen.

«Es ist entscheidend, das Feuer sofort zu löschen. Genau das haben die Schweizer Behörden getan.»

Wie beurteilen Sie die Massnahmen der Schweizer Behörden zur Rettung der Credit Suisse?

In Anbetracht der Krise haben sie das sehr gut gemacht. Der Untergang der Credit Suisse hatte keine negativen Auswirkungen auf die Schweizer Wirtschaft und auf das globale Finanzsystem. Die Bank war systemrelevant. Wenn man da nicht handelt, kommen auch andere Banken in Bedrängnis, und dann vergrössert sich das Problem dramatisch. Es ist also entscheidend, das Feuer sofort zu löschen. Genau das haben die Schweizer Behörden getan.

Aber die Regulierungen nach der Finanzkrise haben nicht verhindert, dass wieder Banken gerettet werden mussten.

Regulierung ist wichtig, aber sie kann Unfälle nicht verhindern. Ich denke, das Hauptproblem liegt in der Unternehmensführung, dem Risikomanagement und dem Geschäftsmodell der gescheiterten Banken. Die Verantwortung liegt bei den Eigentümern und dem Management.

Was sollten wir daraus lernen?

Innovation und Digitalisierung der Finanzdienstleistungen haben dazu geführt, dass das Geld viel schneller aus den Banken abgezogen werden kann als bisher gedacht. Wir sollten die Regulierung auf der Grundlage dieser Tatsache überarbeiten.

Der von Martin Burckhardt entworfene, 1977 fertiggestellte Turm der BIZ in Basel.

Was schlagen Sie vor?

Wir sollten die verschiedenen Möglichkeiten zur Stärkung der Liquidität im Bankensystem prüfen. Höhere Liquiditätspuffer könnten ein sinnvoller Ansatz sein.

SNB-Chef Thomas Jordan schlug vor, Bankeinlagen zum Beispiel mit Kündigungsfristen so zu strukturieren, dass nicht alles aufs Mal abgezogen werden kann.

Das kann eine Möglichkeit sein. Aber man muss das sorgfältig prüfen, denn es könnte auch dazu führen, dass die Leute ihr Geld noch früher abziehen, aus Furcht, es könnte blockiert werden.

«Die Inflation trifft am stärksten die Armen, die Leute mit tiefen Einkommen, die Rentner.»

Benötigen die Banken mehr Eigenkapital?

Ja, dem würde ich grundsätzlich zustimmen.

Glauben Sie, dass in den nächsten Monaten höhere Eigenkapitalquoten vorgeschrieben werden?

Wir sollten nicht überstürzt neue Vorschriften erlassen. Wir müssen zuerst genau verstehen, was passiert ist. Aber der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht arbeitet daran und wird in ein paar Monaten eine Empfehlung vorlegen. Ein wichtiger erster Schritt wird sein, die Einführung der Mindestkapitalvorschriften des Reformpakets Basel III vollständig abzuschliessen.

Die sollten doch längst umgesetzt sein.

Nicht in allen Aspekten. Bis 2027 werden wir eine vollständige Umsetzung haben.

Das ist eine lange Zeit.

Stimmt. Deshalb halte ich es für wichtig, den Prozess zu beschleunigen.

Es gibt zunehmend Kritik an den Zentralbanken. Sie würden bei Bankenrettungen Verluste sozialisieren. Und sie hätten nichts gegen steigende Güterpreise getan, aber stiegen auf die Bremse, sobald die Löhne zu steigen begännen. Sind die Zentralbanken unsozial?

Definitiv nicht. Zentralbanken sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Bei Bankzusammenbrüchen geht es darum, eine Ausweitung des Problems zu verhindern. Eine Zentralbank hat dann nicht die Wahl, manche Kundeneinlagen zu schützen und andere nicht. Und was die Inflation betrifft: Der Hauptgrund, warum es unabhängige Zentralbanken gibt, ist gerade der, dass Inflation die regressivste Steuer ist. Sie trifft am stärksten die Armen, die Leute mit tiefen Einkommen, die Rentner.

Wo sehen Sie die grössten Risiken für die nähere Zukunft?

Die Weltwirtschaft ist an einem kritischen Punkt angelangt. Die Inflation ist weiterhin zu hoch. Die Verschuldung im privaten wie im öffentlichen Sektor ist historisch hoch, die Preise für Vermögenswerte, insbesondere für Immobilien, sind überhöht. Es gibt wenig Spielraum für Fehler. Um die makroökonomische Stabilität sicherzustellen, ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Geldpolitik, Steuerpolitik und Finanzregulierung und Finanzaufsicht entscheidend.