«Absteigende Grossmacht»
Die amerikanische Krise verschärft sich
Unruhen, Krankheit, Armut, Chaos: Trotz aller Innovationen und digitalen Wunder steckt die amerikanische Gesellschaft in einer tiefen Krise. Sie war absehbar.
Im Januar 2019 kritisierte Martin Dahinden, der scheidende Schweizer Botschafter in Washington, indirekt die Berichterstattung der Medien über die USA. Seit den sechziger Jahren werde «der Eindruck vermittelt, die USA seien eine absteigende Grossmacht», so der Diplomat. Dabei würden in dem Land doch «absolute Spitzenleistungen» erzielt, die Universitäten seien Weltklasse und die Produkte innovativ.
Der Einspruch mochte berechtigt sein, widerspiegelte jedoch nur einen Ausschnitt der amerikanischen Realität. Denn die tiefe Krise, die sich jetzt in der Corona-Epidemie entfaltet und unter anderem an den Unruhen und Ausschreitungen in US-Städten manifestiert, war in ihren Umrissen im Januar 2019 bereits ersichtlich.
So sehr Facebook, Google und Apple auch strahlten: Die amerikanische Lebenserwartung sank, Millionen Verzweifelter und Abgehängter waren von Opiaten abhängig, zehntausende starben pro Jahr daran. Alkoholmissbrauch war weitverbreitet, rund 30’000 Amerikaner verloren jährlich ihr Leben durch Schusswaffen, sei es durch eigene Hand oder Mord. Und rund 40 Prozent der Bevölkerung war fettsüchtig, was nun in den Zeiten des Corona-Erregers die amerikanische Todesrate mit nach oben treibt.
Erstarkte Extreme
Das politische System funktionierte schon lange vor 2019 nicht mehr: Polarisierung und gegenseitiges Misstrauen verhinderten dringende Reformen, das Vertrauen in gesellschaftliche und staatliche Institutionen war schwer erschüttert. Die politische Mitte gab nach, die Extreme wurden stärker.
Die Geschichte des Landes seit 2000 war nicht nur geprägt vom Aufstieg der digitalen Wunderwelt. Sie wurde zugleich markiert von der verpatzten Präsidentschaftswahl 2000, vom Terror von 9/11 und der katastrophalen Intervention im Irak zum Preis von zwei Billionen Dollar. Und vom Grauen der Flutkatastrophe in New Orleans 2005 sowie der Grossen Rezession 2008.
Der desolate amerikanische Zustand im Frühling 2020 hat mithin tiefe Wurzeln. Eine davon ist die Weigerung der Regierung Obama, die Urheber des finanziellen Crashs von 2008 politisch und juristisch zur Verantwortung zu ziehen. Millionen Amerikaner wurden ärmer, viele verloren ihre Häuser, derweil oben der Reichtum und mit ihm die groteske Ungleichheit der amerikanischen Gesellschaft weiter wuchs.
Auch diesmal werden Milliardäre wie Jeff Bezos und Mark Zuckerberg noch reicher werden. Die Wirtschaftsflaute auszubaden haben hingegen über 40 Millionen Arbeitslose, darunter viele Minderheiten. Bevor die Warenhauskette J.C.Penney Bankrott anmeldete und tausende Mitarbeiter entliess, verhalfen sich Top-Manager zu Dollarmillionen. Gleiches geschah bei der Mietwagenfirma Hertz. Sicherlich wird es auch anderswo geschehen, wenn die erwartete Pleitewelle kommt.
Ein Bogen der Unmenschlichkeit
Die am stärksten von der Corona-Krise Betroffenen sind unterdessen die Frontsoldaten des Seuchenkapitalismus, darunter überdurchschnittlich viele Latinos und Afroamerikaner. Sie sterben mehr, sie erkranken öfter, ihre wirtschaftliche Zukunft ist ungewisser denn je. Und nun stülpen sich über die Symptome einer schon seit längerem kriselnden Gesellschaft neuerlich Rassenunruhen, wieder einmal ausgelöst durch die Brutalisierung und den Tod eines Afroamerikaners in Polizeigewahrsam.
Von den Lynchmorden im amerikanischen Süden in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts über den Mord an Martin Luther King, von den schweren Unruhen 1991 in Los Angeles im Gefolge der Polizeigewalt gegen Rodney King über den Todesschuss auf Michael Brown 2014 in Ferguson bis hin zu George Floyds Sterben in Minneapolis in der vergangenen Woche spannt sich ein Bogen der Unmenschlichkeit.
Daneben traten in den letzten Jahren vermehrt tödliche Anschläge von Rechtsradikalen: Auf eine Synagoge in Pittsburgh, eine afroamerikanische Kirche in Charleston und auf Latinos im texanischen El Paso.
Institution ohne moralische Instanz
Das Gewebe, welches die amerikanische Gesellschaft zusammenhielt, ist nicht erst seit dem Amtsantritt Donald Trumps brüchig geworden. Aber seine Reaktion auf den Aufmarsch bewaffneter Rechtsradikaler in Charlottesville im August 2017 signalisierte, dass die Präsidentschaft als einigende Institution und moralische Instanz nicht mehr existierte. Sie wurde entwertet von einem Präsidenten, der am Samstag mit Blick auf Demonstranten vor dem Weissen Haus warnte, er werde beschützt von «den bösartigsten Hunden» und «den ominösesten Waffen, die ich je gesehen habe».
Das amerikanische Projekt bleibt stets unvollendet, ein historisches Werk mit Höhen und Tiefen. Die Ereignisse dieses Frühlings aber sind einmal mehr ein Indiz, dass für viele Amerikaner aus unbegrenzten Möglichkeiten sehr begrenzte geworden sind. Unruhen, warnte Dr. King, seien «die Stimmen derer, die nicht gehört werden». Ungeachtet aller Fortschritte seit Kings Bürgerrechtsbewegung verbleibt gerade das schwarze Amerika in einer prekären Lage, verschlimmert noch durch den Ausbruch einer Seuche.
Ein halbes Jahrhundert, nachdem James Baldwin in seinem Essayband «The Fire Next Time» Rassismus und schwarze Lebensunsicherheit angeprangert, zugleich aber auf eine Aussöhnung von Weiss und Schwarz gehofft hatte, muss in Minneapolis die Nationalgarde für Ruhe sorgen. Was dort und in anderen US-Metropolen geschieht, kündigte sich schon lange an. Unvermeidlich war es nicht, absehbar dagegen schon.
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