Aus dem Bezirksgericht ZürichNach neun Jahren auf der Suche nach der Wahrheit
Als 20-Jähriger soll ein Schweizer seinen acht Jahre jüngeren Nachbarn sexuell missbraucht haben. Trotz eindrücklicher Schilderung des Opfers war das Gericht nicht überzeugt.
Das ist ungewöhnlich: Man darf zu dem laut Staatsanwältin «sehr speziellen Milieu», in dem sich die Übergriffe im Sommer 2014 abgespielt haben sollen, gar nichts schreiben. Bereits das Bekanntwerden des Verfahrens wegen sexueller Handlungen mit einem Kind hätte «weitreichende Folgen für die Beteiligten und deren Familien», teilte die Verteidigerin mit und beantragte – was eher selten vorkommt – im Namen des Beschuldigten den Ausschluss der Öffentlichkeit.
Das Gericht folgte dem Antrag. Es liege auf der Hand, dass die Darlegung von Details vor Publikum «besonders für den Beschuldigten sehr unangenehm und demütigend sein könnte». Auch wenn ihm «gravierende Delikte vorgeworfen» würden, sei «kein gesteigertes öffentliches Interesse am vorliegenden Strafverfahren erkennbar», heisst es im Entscheid. Unter weitreichenden Auflagen für die Berichterstattung, sprich Verboten, wurden Medienvertreter zur Verhandlung zugelassen.
Das Abc-Spiel
Dem heute 29-jährige Mann und Vater von drei Kindern wurde vorgeworfen, er habe im Sommer 2014 in einer Art Ritual seinen Nachbarn in seinem Zimmer missbraucht – etwa acht- bis zehnmal. Der Ablauf sei immer der gleiche gewesen. Der damals 12-/13-jährige Knabe sei jeweils zu Besuch gekommen, um mit den jüngeren Geschwistern des Beschuldigten zu spielen.
Unter dem Vorwand, Schach zu spielen, habe er ihn in sein Zimmer geholt, die Tür verschlossen und den Rollladen heruntergelassen. Dann sei es, zunächst über den Kleidern, zu gegenseitigen Massagen gekommen, später nackt zu einem Spiel: Einer zählte das Abc leise auf, der andere sagte Stopp. Der gerade still aufgezählte Buchstabe wurde dann zum Anfangsbuchstaben eines Körperteils. Gemäss Anklage, die sich auf die Angaben des Privatklägers stützte, fiel häufig der Buchstabe H. Für «Hintern». In der Folge sei es dann unter anderem zu abwechselndem Analverkehr gekommen.
Vorwürfe vehement bestritten
Der Beschuldigte, von seiner Ehefrau begleitet, bestritt die Vorwürfe. Der Nachbar sei gar nie in seinem Zimmer gewesen, er habe ihn nicht berührt, habe mit ihm auch nicht Schach gespielt. Überhaupt habe er sein Zimmer gar nicht abschliessen können. Sein Fazit: Würde er verurteilt, müsste ein Unschuldiger ins Gefängnis, und eine Familie wäre kaputt.
Tatsächlich sprach das Gericht den Beschuldigten frei. Es gebe keinerlei Sachbeweise, nur die Aussagen der beiden Beteiligten. Weil Aussage gegen Aussage stehe und die angeblichen Delikte zudem zeitlich weit zurücklägen, müsse das Gericht hohe Ansprüche an einen Schuldspruch stellen. In dieser Konstellation kann das Gericht nur die Glaubhaftigkeit der Aussagen der Beteiligten beurteilen.
Staatsanwältin kündigt Berufung an
Dabei geht es darum, zu prüfen, ob die Aussagen aufgrund sogenannter Realkriterien für Selbsterlebtes sprechen. Das Gericht sprach durchaus von «eindrücklichen» und auch «skurrilen» Schilderungen des Privatklägers. Es gebe auch keine Anhaltspunkte für Falschaussagen oder ein finanzielles Motiv. Aber die Schilderungen des eigentlichen Kerngeschehens, des Analverkehrs und des Onanierens, seien «dünn und detailarm».
Wahrscheinlich, so das Gericht, sei damals schon etwas vorgefallen. Aber es dürfe nur beurteilen, was in der Anklageschrift stehe. Und von deren Inhalt sei das Gericht «nicht überzeugt». Für einen Schuldspruch reiche das nicht. Die Staatsanwältin kündigte an, das Urteil ans Obergericht weiterzuziehen.
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