Lazio vor Duell mit den BayernAlles, nur keine sieben Gegentore
Lazio Rom ist 2021 der erfolgreichste Club in der Serie A, auch dank eines verrückten Genies. Die Abwehr bereitet vor dem Champions-League-Match gegen den Titelverteidiger aber Sorgen.
Lazio, so viel Volkskunde muss aus gegebenem Anlass schon sein, ist das italienische Wort für Latium, so heisst die Region rund um Rom. Rom gehört auch dazu, doch es ist, als erdrücke die Stadt die Provinzen rundherum mit Wucht. Sie schwebt über ihnen, sie macht sie klein.
Auch sportlich ist es so, und dieser Aspekt ist zentral für das tiefenpsychologische Verständnis dieser Geschichte. Um es pauschal zu sagen: Die Società Sportiva Lazio ist der römische Fussballverein der Provinz und der «burini», wie die Römer nicht sehr nett zu den Hinterwäldlern und Landeiern sagen, während der Lokalrivale, die Associazione Sportiva Roma, der Club der Stadt ist, der urban blasierten Fans. Klar, es gibt auch «burini» unter den Romanisti, nicht zu knapp. Und es gibt auch Laziali, die in der Stadt leben, ebenfalls eine Menge.
Einer von ihnen ist der junge Zeitungshändler um die Ecke, an der Via Arenula, er ist ein Alltagsphilosoph des Fussballerischen. Jedes Jahr hängt er den neuen Kalender von Lazio so in die Auslage, dass man von dem der Roma dahinter nur die Spiralbindung sieht.
Er hat alle typischen Reflexe eines Laziale. Er ist also grundsätzlich zerknirscht über das Unvermögen des Vereins, über das Unglück und die Ungerechtigkeiten, die Lazio immer schon am Boden halten. Dabei hätte es der Adler, das Clubtier, doch unbedingt verdient, hoch zu fliegen.
Der Adler, als Taube verhöhnt
Bei Lazio lassen sie seit ein paar Jahren vor jedem Heimspiel einen Adler durchs Stadio Olimpico fliegen, die Idee haben sie von Benfica Lissabon kopiert. Der Flug von Olimpia, wie der Vogel heisst, ist eine tolle Show mit unterlegter Clubhymne, auch im leeren Stadion wird sie gegeben. Die Romanisti neiden den Laziali die Zirkusnummer, obschon sie das nie zugeben würden. Sie verhöhnen den Adler lieber als «piccione», als Taube.
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Sonntagmorgen, 7 Uhr, die meisten Zeitungspakete liegen noch geschnürt im Kabäuschen, im Schutzglas steckt eine Gesichtsmaske mit dem weissblauen Wappen von Lazio. Zwei Tage noch bis zum Hinspiel gegen Bayern München, Achtelfinal der Champions League. Der Termin allein gereicht schon zur inneren Genugtuung.
Der Zeitungshändler beginnt Ausführungen immer mit derselben Frage, einer rhetorischen Prämisse: «Posso dirti una cosa?», sagt er. Weisst du was? «Ich wäre schon froh, wenn wir nicht sieben Gegentore kassieren würden.» Die Probleme der Bayern mag er beim besten Willen nicht erkennen. Die lange Liste verletzter Spieler? Die Schwächen in der Abwehr? Die Niederlage in Frankfurt? «Ja, ja, hab ich gesehen. Aber das ist Bayern», sagt er. «Alles unter sieben Gegentoren wäre ein Erfolg.»
In Italien hütet man sich vor allzu euphorischen Prognosen, das soll Unglück bringen.
Nun schwingt im Understatement auch immer Aberglaube mit: In Italien hütet man sich vor allzu euphorischen Prognosen, das soll Unglück bringen. Unter Laziali ist dieses Gefühl vielleicht noch ausgeprägter als bei anderen Fans, man ist eben nicht verwöhnt worden über die Jahrzehnte. Die «Sieben» ist aber nicht zufällig gewählt. Sechseinhalb Jahre ist es her, Oktober 2014, da schlug Bayern die Roma 7:1. In Rom. Alles wird immer am Rivalen gemessen, Glorie und Dekadenz.
Diesmal ist dennoch alles etwas anders, die Stimmung bei Lazio ist aussergewöhnlich gut. Seit Beginn des neuen Jahres hat kein Verein der Serie A mehr Punkte gewonnen, man ist wieder dran an den Ersten. Trainer Simone Inzaghi hat soeben die Marke von 100 Siegen erreicht, nach 182 Spielen. Damit hat er in dieser Kategorie eine bessere Quote als etwa Carlo Ancelotti und Massimiliano Allegri, zwei Grössen des Fachs, die viel höher kotierte Teams zur Verfügung hatten.
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Inzaghi (44) kommt aus Padua, man hört das seinem Akzent bis heute an, dieser klingt schrill im Vergleich zum Römischen. Doch an seiner Lazialità zweifelt niemand. Er war Spieler hier, von 1999 bis 2010, später trainierte er Lazios Nachwuchs, seit 2016 ist er Coach der ersten Mannschaft. Zweimal gewann man mit ihm den Supercup, einmal die Coppa Italia.
Vor allem aber spielt Lazio seit einiger Zeit den besseren und schnelleren Fussball als die Stadtrivalen, und allein dafür würde Inzaghi ein Monument verdienen: Der alte Komplex der Provinzler ist weg. Das jüngste Derby dominierte Lazio so klar, 3:0, dass niemand mehr debattieren mochte. Es brauchte auch keine Prämissen mehr: «Posso dirti una cosa?»
Gestärkt durch Finanzschwäche
Inzaghis Erfolg ist auch eine Folge der Finanzschwäche des Vereins. Lazio fehlen die Mittel eines ganz grossen Clubs. Der Reinigungsunternehmer und Vereinsbesitzer Claudio Lotito, der die Galerie regelmässig mit ungewollter Komik belustigt oder verstört, verlässt sich ganz auf das Scouting und die Schnäppchenjagd seines Sportdirektors, des Albaners Igli Tare. So ist man im Budget, und das Ensemble bleibt in grossen Teilen seit Jahren dasselbe. Das stärkt die Spielmechanismen, es sind Automatismen geworden.
Lazios wichtigster Akteur ist ein Andalusier mit schwierigem Charakter und feinen Füssen, den sie «Mago» rufen, Zauberer: Luis Alberto, 28, offensiver Mittelfeldspieler, war 2016 für nur vier Millionen Euro von Deportivo La Coruña gekommen. Fast alles läuft über ihn – und wie auf Samt.
Zurzeit ist Luis Alberto wahrscheinlich der feinste, kreativste Umschalter der Serie A, er löffelt die Bälle, schubst sie in Lücken, und neuerdings trifft er auch: sieben Tore schon in der laufenden Meisterschaft. In der gesamten letzten Saison waren es sechs Treffer gewesen. Allerdings gelingen ihm nun, da er selbst zum Goalgetter geworden ist, kaum mehr Assists.
Ein Rollenwechsel, der seine Popularität schlagartig verändert hat. Luis Alberto polarisiert. «Er ist ein Genie, aber ziemlich verrückt. Oder ein genialer Verrückter», schreibt die römische Zeitung «La Repubblica». Wenn er ausgewechselt wird, verwünscht er die halbe Welt und den Trainer dazu, jedes Mal. Luis Alberto ist ein wandelndes Lamento, er fühlt sich zu wenig geschätzt.
Vor einigen Monaten machte er von sich reden, als er den Präsidenten offen kritisierte. Lotito hatte für den 120. Geburtstag des Vereins ein Flugzeug, eine alte Boeing 737 der bulgarischen Billigairline Tayaran Jet, in Blau und Weiss spritzen lassen, damit die Mannschaft standesgemäss zu Auswärtsspielen fliegen kann. Er mietet den Jet. Luis Alberto liess ausrichten, der Verein habe Geld für diese Maschine, doch die Löhne bezahle er nicht. Beinahe wäre er dafür im Winter wegtransferiert worden.
Zwei Drittel der Innenverteidigung fehlen
Nun ist er in der Form seines Lebens und kombiniert fast intuitiv mit dem Serben Sergej Milinkovic-Savic, seinem Partner in der Regie, einem hochgeschossenen Achter mit erstaunlicher Technik. Den «Sergente», den Feldwebel also, würde Lotito angeblich nur für 100 Millionen Euro verkaufen wollen, wenn überhaupt. Und vorne drehen Ciro Immobile und der Argentinier Joaquín Correa ihre Kreise, wie kleine Wirbel auf der Linie des Abseits.
Doch bei aller Freude über das Zwischenhoch: «Posso dirti una cosa?» Lazio leide in der Verteidigung. Zwei Drittel der Dreierabwehr, nämlich der Rumäne Stefan Radu und der Brasilianer Luiz Felipe, fallen verletzt aus, da muss jetzt ständig improvisiert werden: Aussenverteidiger spielen Innenverteidiger, Mittelfeldspieler werden nach hinten versetzt. Man habe eben eine chronisch kurze Ersatzbank, sagt der junge Zeitungshändler an der Via Arenula. Viel Unglück, einige Ungerechtigkeiten – das Schicksal ist serviert. Alles unter sieben Gegentoren wäre ein Triumph.
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