Flüchtlinge in FrankreichPolizei räumt Elendscamp in Banlieue
In Paris sind Tausende obdachlos, die meisten von ihnen sind Migranten. Einigen Afghanen ermöglicht Frankreich nun eine Pause vom Leben auf der Strasse. Gelöst ist das Problem aber nicht.
Als die Busse der Stadtverwaltungen ankamen, hatten die Zeltbewohner schon selbst damit angefangen, ihr Camp aufzulösen. Wobei «Camp» das Elend nicht richtig beschreibt: In der nördlichen Pariser Banlieue, gleich beim Stade de France in Saint-Denis, lebten mehr als 2000 Geflüchtete monatelang dicht an dicht unter einem Autobahnzubringer. Das einzige Dach über dem Kopf boten kleine Igluzelte. Erst als die Zahl der Obdachlosen weit über 1000 lag, wurden ein paar Toiletten aufgestellt und Wasserhähne installiert. Duschen gab es nie.
Erste Verdachtsfälle von Covid-19
Schon im August konnte man die Ansammlung der Zelte in Saint-Denis nicht mehr übersehen. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen berichtete, dass sich zahlreiche Geflüchtete mit der Krätze angesteckt hatten, einer ansteckenden Hauterkrankung, die durch Milben verursacht wird. Es gab auch erste Verdachtsfälle von Covid-19. Frankreichs Innenminister Gérard Darmanin kommentierte die Evakuierung des verwahrlosten Lagers am Dienstag auf Twitter. Er habe die Räumung in Auftrag gegeben, bedankte sich bei der Polizei und sprach von «erbärmlichen sanitären Zuständen».
Tatsächlich forderten Hilfsorganisation bereits seit Wochen, eine Unterbringung für die Campbewohner zu organisieren. Doch in den staatlichen Erstaufnahme-Einrichtungen und auch in den Notunterkünften fehlen die Plätze. Die Organisation Terre d’Asile, die Frankreichs Regierung in migrationspolitischen Fragen berät, beklagt seit Jahren, dass gar nicht erst versucht werde, genügend Betten und Zimmer zur Verfügung zu stellen. Auch die neueste Räumung wird für die wenigsten eine dauerhafte Lösung bringen. Die Menschen werden aus ihren Zelten in Turnhallen gebracht. Das bedeutet eine Pause vom Leben auf der Strasse, aber kein Ankommen in einer Unterkunft.
Frankreich schiebt nicht gross nach Afghanistan ab
Der «Parisien» berichtete am Dienstag, dass die Räumung des Lagers die 66. Aktion dieser Art innerhalb der vergangenen fünf Jahre gewesen sei. Die Mehrheit der 2000 Geflüchteten, die am Dienstag evakuiert wurden, stammt aus Afghanistan. Auf den Strassen von Paris stranden sowohl Menschen, die in Frankreich ihren ersten Asylantrag stellen wollen, als auch solche, die andere EU-Länder verlassen haben, weil ihnen dort eine Abschiebung droht. In Frankreich ist es für Migranten möglich, erneut Asyl zu beantragen, obwohl das den eigentlich geltenden Dublin-Regeln widerspricht. Anders als andere Länder schiebt Frankreich nicht im grossen Stil nach Afghanistan ab.
Auch wenn die wild wachsenden Flüchtlingslager in Paris kein neues Phänomen sind, hat sich das Elend der Menschen in den Zelten verschlimmert. «Das ist das schlimmste Lager, das wir bisher in Paris gesehen haben», stellte die französische Caritas mit Blick auf den Autobahnzubringer von Saint-Denis fest. Mit jeder Räumung wandern die Zeltstädte weiter vom Zentrum in die Peripherie, weiter aus dem Blickfeld. Vor zwei Jahren campten die Geflüchteten noch direkt in einem Pariser Ausgehviertel, inzwischen findet man sie ausserhalb der inneren Stadtgrenze. Die Versorgung mit Nahrung und der Zugang zu sanitären Anlagen hat sich dadurch deutlich verschlechtert. Zudem hatte die Corona-Pandemie die Asylbehörde während Frankreichs erstem Lockdown im Frühjahr knapp zwei Monate komplett lahmgelegt. Es konnten keine Anträge mehr gestellt werden.
«Es ist eine Frage der Würde und der Menschlichkeit, dass alle Menschen angemessen untergebracht werden.»
Frisch im Amt, im Juli 2017, hatte Präsident Emmanuel Macron gesagt, er wolle «vor Ende des Jahres keine Frauen und Männer mehr auf der Strasse sehen». Er sprach dabei nicht über Obdachlose im Allgemeinen, sondern konkret über Geflüchtete. Es sei eine «Frage der Würde und der Menschlichkeit», so Macron, dass alle Menschen «angemessen untergebracht» würden.
Wie weit Frankreich davon entfernt ist, dieses Versprechen einzulösen, zeigte eine Meldung der vergangenen Woche. Die wichtigste Obdachlosen-Hilfsorganisation des Landes, die Fondation Abbé Pierre, stellte fest, dass 300’000 Menschen auf der Strasse, in Notunterkünften oder in slumartigen Barackensiedlungen leben. Zu diesen Obdachlosen zählt die Fondation Abbé Pierre auch mehr als 100’000 Geflüchtete, die in Erstaufnahme-Einrichtungen untergekommen sind. Die Zahl derjenigen, die höchst prekär wohnen, hat sich seit 2012 verdoppelt.
Fehler gefunden?Jetzt melden.