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«Wir Frauen im Puff waren psychisch kaputt»

Heute hat die junge Frau in der Schweiz ein soziales Netz, spricht Deutsch und ist psychisch stabil: «Valeria» (rechts) im Gespräch mit ihrer FIZ-Beraterin Irina Spirgi.
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Valeria* ist bildhübsch, schlank und hat grosse dunkle Augen. Sie schaut auf ihre Hände, die sie im Schoss gefaltet hat, und erzählt mit leiser Stimme: «Ich habe viele Fehler gemacht.» Valerias Familie in einem kleinen südosteuropäischen Dorf ist arm. Ihr Vater Alkoholiker und gewalttätig. Ihre Mutter an Krebs erkrankt. Valeria bricht die Schule ab und pflegt ihre Mutter, bis diese stirbt, als sie 16 Jahre alt ist. Die Tochter verliert den Boden unter den Füssen. Sie wird depressiv, beginnt sich zu ritzen.

Dann lernt sie über eine Freundin einen Mann kennen, der grosses Interesse an ihr zeigt. Er macht ihr Komplimente, bringt sie von Zuhause weg in ein Hotel und macht ihr Geschenke. Valeria ist überwältigt von der Aufmerksamkeit. Der Mann beginnt Druck aufzubauen: Sie wohne bereits eine Woche im Hotel und müsse ihm das Geld zurückzahlen. Sie habe jetzt Schulden bei ihm. Er wolle ihr dabei helfen, als hübsche junge Frau in der Schweiz Arbeit zu finden. Das interessiert Valeria: «Ich wollte nicht reich werden, aber etwas aus meinem Leben machen.»

«Ich wollte nicht reich werden, aber etwas aus meinem Leben machen.»

"Valeria"

Als Valeria einen Tag nach ihrem 18. Geburtstag mit ihrem Verehrer in die Nordwestschweiz kommt, wird ihr als Erstes der Pass abgenommen. Bald wird klar, sie muss hier als Prostituierte in einem Club arbeiten unter der Aufsicht der Ehefrau ihres Bekannten. Dieser zeigt ihr auch gleich, wie das gehen soll – und vergewaltigt sie. So geht das täglich weiter.

Dann hat Valeria Glück im Unglück: Ein Freier schlägt sie und stiehlt ihr Portemonnaie. Von einer Kollegin ermutigt, meldet sie den Diebstahl der Polizei. Nach Abklärungen erkennen die Polizisten, dass Valeria Opfer von Menschenhandel wurde. Sie gelangt zur Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) nach Zürich (siehe Kasten). «Ich glaube, das war Schicksal», sagt sie.

«Für die Frauen ist es eine Lotterie, ob sie als Opfer erkannt werden, je nachdem in welchem Kanton sie ausgebeutet werden.»

Rebecca Angelini,Öffentlichkeitsverantwortliche FIZ

Über ein Drittel der 229 Fälle, die FIZ Makasi, die Interventionsstelle für Opfer von Frauenhandel, 2015 bearbeitet hat, wurden von der Polizei überwiesen. Das ist alles andere als selbstverständlich, denn nur in wenigen Kantonen wie etwa in Zürich existieren spezifische Polizeieinheiten, die geschult sind, Anzeichen von Menschenhandel zu erkennen. «Für die Frauen ist es eine Lotterie, ob sie als Opfer von Menschenhandel erkannt werden, je nachdem, in welchem Kanton sie ausgebeutet werden», sagt Rebecca Angelini, Öffentlichkeitsverantwortliche der FIZ.

Neben der Polizei melden sich aber auch Behörden, Bekannte und sogar Freier bei der FIZ, wenn ihnen etwas Verdächtiges aufgefallen ist. «Die Frauen selber erkennen oft nicht, dass sie Opfer sind. Sie glauben, sie müssten ihre Schulden abarbeiten und wollen es nicht wahrhaben, dass sie ausgebeutet werden», sagt Irina Spirgi, die Makasi-Beraterin, die zuständig ist für Valerias Fall.

«Wie im Paradies»

«Die Frauen im Puff, die wie ich ausgebeutet wurden, sind psychisch kaputt, sie können sich nicht wehren», sagt Valeria. «Wir wussten auch nicht, dass es Stellen wie die FIZ gibt.» Sie kommt in einer der beiden Schutzwohnungen der FIZ unter. «Dort war es ein bisschen wie im Paradies», sagt Valeria und strahlt. Per Dolmetscherin kann sie sich endlich verständigen, hat ein eigenes Zimmer und etwas Geld.

«Zuerst musste sie verkraften, dass ihre Welt zusammenbrach, als sie realisierte, dass ihre Freunde, gar keine Freunde waren.»

Irina Spirgi,FIZ-Beraterin

«Am Anfang war ich sehr verunsichert und erzählte nicht viel», sagt Valeria. Es dauert, bis sie Vertrauen zur Beraterin Irina Spirgi aufbaut. «Zuerst musste sie verkraften, dass ihre Welt zusammenbrach, als sie realisierte, dass ihre Freunde, gar keine Freunde waren.» Die Klientin gebe das Tempo vor, sagt Spirgi. Sie wisse auch jederzeit, was als nächstes passiert.

Innerhalb von 30 Tagen müssen sich die Frauen entscheiden, ob sie mit der Polizei zusammenarbeiten wollen. Wenn das der Fall ist und die Frauen in der Schweiz bleiben wollen, kann die Strafverfolgungsbehörde eine Kurzaufenthaltsbewilligung beantragen für die Dauer des Verfahrens. Die Bewilligung zu erteilen liege aber im Ermessen der Behörden und die Handhabung unterscheide sich von Kanton zu Kanton, wie Rebecca Angelini sagt. Ein Teil der Frauen wolle bleiben, sagt Irina Spirgi. Andere erstatten Anzeige und kehren nach Hause zurück oder gehen, ohne sich gerichtlich zu wehren. In den letzten Jahren kooperierten zwischen 60 und 70 Prozent der Opfer, die ins Makasi-Programm eintraten, mit der Polizei.

Panik und Suizidversuch

Valeria kann nicht zurück nach Hause. Ihr engstes Umfeld steht in Kontakt mit den Menschenhändlern. Ihre Familie unterstützt sie nicht, sondern gibt ihr sogar die Schuld. Sie entscheidet sich, ihre Peiniger anzuzeigen und darf vorläufig in der Schweiz bleiben. Irina Spirgi begleitet sie zur Polizei, organisiert einen Deutschkurs und sucht mit ihr eine weitere Bleibe, als sie die Schutzwohnung nach 8 Monaten verlassen muss.

«Ich war wie ein Maulwurf und habe über ein Jahr lang nichts gemacht.»

"Valeria"

Das gestaltet sich schwierig, denn Valeria geht es psychisch schlecht. Sie hat Panikattacken und bei einer Pflegefamilie begeht sie einen Suizidversuch. Sie kommt in eine psychiatrische Klinik. Später in einer Frauen-WG isoliert sie sich, hat keinen Antrieb: «Ich war wie ein Maulwurf und habe über ein Jahr lang nichts gemacht.» Erst als sie in eine betreute WG zieht und von einer Sozialpädagogin enger begleitet wird, beginnt sich ihr Zustand zu stabilisieren.

Putzfrau oder Hauswirtschaft

Heute absolviert sie ein Vorbereitungsjahr zu einer Berufslehre. Ihren Traum, Kinderärztin zu werden, hält sie unterdessen für unrealistisch und hat ihn in die ferne Zukunft verschoben. Sie möchte nun eine Lehrstelle als Putzfrau oder Hauswirtschafterin finden. Sie weiss aber, wie schwierig das ist ohne Schulabschluss. Valeria hat sich langsam integriert, hat Freunde und spricht Deutsch, aber sie hat grosse Wissenslücken: «Mathematik und alles, was nicht praktisch ist und mit Konzentration zu tun hat, fällt mir schwer.» Auch arbeite sie noch daran, pünktlich und zuverlässig zu sein.

Irina Spirgi bleibt mit Valeria in Kontakt. Spirgi beantragt die Verlängerungen der Kurzaufenthaltsbewilligung und wird sie vor Gericht begleiten. «Dass ihr Verfahren aber noch nicht soweit ist, kommt ihr entgegen», sagt Spirgi. Valeria hat noch Schonfrist. Ob sie langfristig in der Schweiz bleiben kann oder nicht, ist noch völlig offen.

Der Club, in dem Valeria arbeitete, ist heute noch in Betrieb. Der Täter ist auf freiem Fuss und schon lange nicht mehr dort aufgetaucht. Die Ermittlungen stehen still.

*Valerias Geschichte wurde zu ihrem Schutz anonymisiert.